Türkei 2

21.-29.06.2014, Trabzon – Safranbolu – Istanbul – Edirne

Nun ist es soweit. Wir sitzen im Minibus nach Trabzon in der Türkei. Schon lange beschäftigt uns der Gedanke an die Rückreise. Meist sind es wehmütige Gedanken, unsere freie Zeit geht dem Ende zu. Gleichzeitig freuen wir uns sehr, bald schon wieder auf den Rädern zu sitzen und Südosteuropa zu erkunden. Vor genau einem Jahr sind wir in die Türkei eingereist, ein Jahr nachdem wir in Istanbul angekommen sind werden wir diese Metropole wieder verlassen.

 

Die Fahrt entlang der Schwarzmeerküste aus Georgien kommend verlief soweit ruhig, und der Grenzübertritt war problemlos – auch wenn Roman seine innere Nervosität bei jeder Grenze nur knapp unter Kontrolle hat. Aber die Toiletten sind zum Glück meist nicht weit.
In meinem überfüllten deutschen Pass prangt nun auch ein Türkei-Stempel – den ich bei der ersten Einreise mit Personalausweis nicht bekommen habe. Dieser Pass wird eine der vielen bunten und schönen Erinnerungen an unser Abenteuer sein und bleiben!

Unser Hotel-Appartement in Trabzon ist geräumig und modern – wenn auch türkisch geputzt. Mit Kühlschrank, Kochmöglichkeit, Spülbecken und Waschmaschine haben wir für wenig Geld eine gute Unterkunft. Draussen gehen sintflutartige Regen herab und wir kuscheln uns auf die kleine Couch, schauen einen Film, essen Käse und Brot und warten auf besseres Wetter.

Sonnenschein weckt uns am nächsten Tag, und mit ihm kommen auch die neuen Ideen. Morgen, so überlegen wir, fahren wir nach Safranbolu. Mit der Nachtfahrt im Bus werden wir auch das Geld für eine Übernachtung sparen und in dem UNESCO – Weltkulturerbe haben wir per Internet schnell ein hübsches Hotel im Zentrum gefunden. Jetzt erkunden wir die Stadt am Meer. Trabzon ist – wie Safranbolu auch – eine touristische Stadt, mit entsprechender Infrastruktur. Um den Meydan tummeln sich die Restaurants, in der Altstadt gibt es Museen und Moscheen zu besichtigen und im Park am Meer haben einige grosse aber dennoch gemütliche Restaurant-Komplexe ihre Sonnenschirme aufgestellt. Alles ist aber hier wie dort auf einheimische Touristen ausgerichtet, selten finden wir die eine oder andere Speisekarte auf Englisch.
Die „Touristeninfo“ ist da, wo sie hingehört, in einem Büro am Meydan. Der Angestellte sitzt hinter seinem Schreibtisch, die Wände sind leer, er spricht kaum Englisch – und er kennt seine Stadt nicht. Wir fragen nach touristischen Punkten wie der Carsi-Camii (Basar-Moschee) und er zeigt uns irgendetwas anderes, nachdem er seine 12-jährige Tochter am Nebentisch gefragt hat. Nein, viele ausländische Touristen haben sie hier bestimmt nicht!
Wie schon andere Städte, die wir auf dieser Reise gesehen haben, ist auch Trabzon eine unaufgeregte Stadt auf dem Weg in die Moderne. Am Meydan wird gebaut, vieles hat sich in den letzten 15 Jahren zum Besseren und Schöneren verändert. Hier finden wir einen aus unserer Sicht gesunden Durchschnitt der Bevölkerung. Wir sehen alte Menschen und junge Familien, wir sehen Basarverkäufer mit Schnauzbart und Gebetskette, wir sehen junge Frauen in Shorts und Stöckelschuhen. Unser Blick schweift über Kopftücher mit langen traditionellen Mänteln, Kopftücher mit Jeans und T-Shirt, wallende Haare mit Minirock und einfach durchschnittliche junge Frauen in sommerlich-europäischer Kleidung. Alle haben Platz hier und niemand scheint fundamentalistisch auf der einen oder anderen Meinung zu beharren. Wir sind weit weg von Istanbul.

Wir streifen durch die Stadt, vom Hotel entlang der Hauptverkehrsader. Am „Autobahnkreuz“ kurz vor dem Zentrum führt uns eine Treppe hinunter ins Hafenviertel. Wir stehen oben, schauen auf Meer und Kräne, auf Häuser – zum Abriss bereit – und auf die Strasse am Ufer. Direkt unter uns, im Schatten der Brücke sitzen ein paar Frauen bei einem kleinen Ofen vor ihren Häusern und winken uns zu. Eine unwirkliche Oase am Verkehrsknotenpunkt, mit Garten und viel Grün, mit einem dörflichen Flair. Offensichtlich freut sich die kleine Gemeinschaft über unseren Besuch, wir werden herzlich empfangen und dürfen uns setzen. Notdürftig unterhalten wir uns mit Händen und Füssen, in der einen Hand eine Fanta, in der anderen ein frisch gebackener Yufka – ein hauchdünner, trockener Teigfladen. Die Gastfreundschaft der Türken ist immer wieder erstaunlich und erfreulich, sie lässt jeden Mitteleuropäer als sozial inkompetent dastehen. Ein Rufen zum Nachbarhaus gibt die Neuigkeit des Besuchs weiter, und nach wenigen Minuten erscheint Birgül mit einem Teller voller frisch zubereiteter Cigköfte. Zunächst sind wir skeptisch, das sieht ja aus wie rohes Fleisch. Aber der erste kleine Biss verlangt nach mehr, und wir wissen nun, was wir vor einem Jahr verpasst haben!
Birgül, die in Norddeutschland aufgewachsen ist, ist als junge Frau mit ihren Eltern zurück in die Türkei gezogen; sie wohnt mit Mann und 3 Kindern hier. Aber nicht mehr lange, denn die Regierung wird schon bald dieses Quartier modernisieren, die alten Häuser abreissen. Birgül und ihre Familie haben sich von der Abfindung ein kleines Haus im Hinterland leisten können. Wirklich glücklich sind sie jedoch nicht damit. Es macht Spass, mit dieser kleinen arbeitsamen Gemeinschaft eine halbe Stunde zu verbringen. Wir können uns dank Birgüls Übersetzungen recht gut unterhalten und erfahren, dass die vielen Yufka-Fläden für den bald schon beginnenden Ramazan gebacken werden. Sie halten sich lange und gut und schmecken aufgebacken, mit Käse gewürzt, hervorragend.
In 90 Minuten beginnt das WM – Spiel Russland gegen Belgien und wir verabschieden uns, laufen unten am Hafen entlang in die Stadt. Hier wuselt es, Minibusse fahren ab in die nähere Umgebung, eine Teebude steht neben der anderen, ein Hotel neben dem anderen, dazwischen eine kleine Moschee. Und dann entdecken wir etwas, das wir bisher noch nicht gesehen haben, in der Türkei. Wir können es zunächst selber kaum glauben, wir sind in der „Freudenstrasse“ gelandet. Wobei die Frauen hier nicht unbedingt eine wahre optische Freude sind. Es gibt vieles, das uns erstaunt. Zum einen, dass es hier eine solche Strasse derartig offensichtlich gibt, zum anderen, dass die Einwohner Trabzons diesen Bezirk als Tatsache in ihr alltägliches Leben integriert haben. Die Teebuden scheinen sich durch nichts von denen in der Stadt zu unterscheiden, Männer wie Frauen ignorieren das Gewerbe, kaufen ihr Gemüse neben dem Hotel mit den (fast) barbusigen Damen, feilschen um Fahrkarten für den Minibus und gehen ihrer Wege. Die Prostituierten sind Teil der Menschenmenge auf Gehsteig und Strasse.

Wir gehen weiter, in ein anderes Quartier. Denn das Ziel ist es, ein Restaurant mit Fernseher zu finden, ein Café, in dem das Fussballspiel gezeigt wird. Wir landen im moderneren Teil der Stadt, hier ist ein Café, eine Bar, ein Restaurant neben dem anderen, die traditionellen Teebuden haben hier keinen Platz. Uns gefällt das Café an der Strassenecke, es ist bunt und jung – und vor unserem Tisch hängt ein grosser Flachbildschirm an der Wand. Extra für uns schalten die Kellner vom Musikkanal auf WM um, und während 2 Stunden sind wir nun „special guests“ in Trabzon. Wir essen zu Abend, trinken Kaffee und fiebern mit den Belgiern. Es ist ein schönes Spiel – mir ist ja immer egal, wer spielt, Hauptsache es tut sich was, auf dem Platz.

Den nächsten Tag verbringen wir irgendwie, es regnet schon wieder und wir streifen durch die Gassen, essen etwas, trinken Kaffee und warten vor allem auf den Bus, der um 19:00Uhr Richtung Safranbolu aufbricht. Diese Nachtfahrten sind immer wieder eine Qual. Kaum haben wir die richtige Position gefunden, kaum sind wir in den ersten Dämmerschlaf gesunken, gibt es schon wieder einen Halt – Essenspause oder einfach Toilettenpause. Nur ausgerechnet dann, wenn die Blase drückt und am Schlafen hindert, dann fährt der Fahrer 5 Stunden durch. Nach 14 Stunden Reisezeit und unzählbaren Pausen erreichen wir das hübsche kleine Städtchen. Den Morgen verbringen wir in den Gassen der Altstadt, bewundern die hervorragend restaurierten Häuser und den Blick vom Hügel auf das rote Dächermeer. Wir klettern auf das Dach der alten Karawanserei und bestaunen die schöne Moschee. Es ist ruhig hier, im touristischen Viertel. Zwar findet sich ein „Lokum“-Geschäft neben dem anderen, wir könnten Baumwollwaren oder auch Kupferkessel kaufen, aber alles läuft gemächlich ab.
Das Hotel ist ruhig und gemütlich, wir schlafen wunderbar auf den 5-Sterne-Matratzen. Das war das Mittagsschläfchen. Denn am Abend wollen wir wieder fit sein, wollen Italien spielen sehen gegen Uruguay. Das ist hier jedoch nicht ganz so einfach, wir wandern durch den anderen Teil der wunderschönen Altstadt, sehen die verschiedenen Schluchten, die den Ort mit ihren Flüsschen durchziehen und gehen entlang der alten Stadtmauer bis hinauf zum historischen Museum. Safranbolu hat sich gelohnt. Mehr als 2 Tage braucht man hier nicht zu verbringen – einer ist vielleicht etwas wenig – aber nirgendwo sonst haben wir derart viele schöne ottomanische Häuser gesehen. Am Hauptplatz hinter der Karawanserei finden wir einen Fernseher, auch hier wird im kleinen Restaurant extra für uns das Programm gewechselt – alle Gäste ausser uns sitzen draussen – und wir können dem blamablen Spiel der Italiener folgen, dürfen zusehen, wie sich ein Uruguayaner die Zähne ausbeisst.

Am nächsten Tag sitzen wir schon wieder im Bus, fahren insgesamt 8 Stunden bis wir am „Esenler Otogar“ in Istanbul stranden. Hier müssen wir jetzt noch knapp ein Stündchen auf den Shuttle-Bus warten, und dann – dann sind wir endlich in Fatih angekommen. Hier, an der Hauptstrasse dieses Istanbuler Stadtteils wohnen im 6. Stock – ohne Aufzug – Serdar und Guvanch.

Wir sind später als erwartet, und Serdar muss arbeiten. Dafür nimmt Guvanch uns in Empfang. Wir haben mit einem Platz für uns in der Ecke auf dem Boden gerechnet – stattdessen haben die Jungs für uns ein Zimmer frei gemacht. Zwei bequeme Betten warten auf uns, und im „Wohn-Ess-Schlafzimmer“ sitzen drei junge Turkmenen vor den beiden PCs auf dem Boden. Es laufen – parallel – beide WM – Spiele, es ist spannend und vor ihnen liegt ein grosser Haufen Sonnenblumenkernschalen. Je spannender, desto mehr wird geknabbert….. Roman setzt sich direkt dazu, es ist gemütlich.

Unser Freund und „Verbindungsmann“, Serdar, muss viel arbeiten in den nächsten Tagen. Und auch viel lernen, denn ausgerechnet jetzt ist Prüfungszeit. 4 Abschlussprüfungen stehen an, eine davon während unseres Aufenthaltes in Istanbul. Schade, wir sehen ihn nicht so viel, aber natürlich sind die Prüfungen (und das Geld-Verdienen) wesentlich wichtiger. So haben wir dann aber auch Zeit in Ruhe alle unsere Erledigungen zu machen.
Alles läuft wunderbar, unsere Tage sind gefüllt aber nicht gestresst. Wir schlafen aus, machen uns einen Kaffee in der Junggesellenwohnung, packen unsere Taschen um, laufen zur Post, schicken unsere Rucksäcke mit unnötigem Ballast in die Schweiz und finden beim zweiten Anlauf einen guten Fahrradladen für den „Check-up“. Wir können die Brillen reparieren lassen, die Hosenbodennähte verstärken lassen und beim Barber neben Bart- und Kopfhaar auch noch Augenbrauen-, Ohren- und Nasenhaar stutzen lassen.

Und wir können unsere kanadischen Bekannten treffen. Damals, vor 3 Jahren in Kalkutta, haben wir gemeinsam eine Nacht im Bahnhof verbracht. Unser Zug hatte 11 Stunden Verspätung! So etwas schweisst zusammen. Denise und Daniel reisen trotz ihrer 15 Jahre mehr auf dem Buckel noch genauso wie wir – mit Rucksack, einfach mal drauf los. Mit viel Neugierde, Freude und Offenheit. Jetzt sind sie 5 Wochen durch die Türkei gereist, in 3 Tagen fliegen sie zurück nach Kanada und laden uns herzlich ein, sie dort zu besuchen. Ja, das ist dann vielleicht die nächste Reise im nächsten Jahr.

Sie haben sich ein gutes Hotel geleistet, mitten in Sultanahmet. Oben auf der Terrasse trinken wir ein Bier und bestaunen den Sonnenuntergang über der blauen Moschee, über der Hagia Sophia und über dem Marmara-Meer. Es ist wunderschön hier, es ist toll, sich mit den beiden in einem englisch-französischen Mix zu unterhalten. Vor allem Daniel spricht derartig „Quebecois“ , dass wir uns grosse Mühe geben müssen, ihn zu verstehen. Wir essen das seit langem beste Abendessen, lachen viel und trinken viel und wissen, dass wir uns wiedersehen werden. A bientôt!

In der Wohnung im 6. Stock an der Millet Caddesi in Fatih/Istanbul ist viel los. Mal schlafen nur 2 im anderen Zimmer, mal sitzen 5 um den Fernseher herum, schauen Fussball und knabbern Sonnenblumenkerne und teilen sich in der Nacht den Fussboden. Diese 5 laden wir zum Abschiedsessen ein! Da sitzen wir also in der Türkei mit einem Haufen turkmenischer Studenten und essen Köfte, unterhalten uns übers Reisen, übers Heiraten und übers Studieren. Serdar geht nach den Prüfungen zurück in die Heimat. Und in der Heimat wird er eine Arbeit finden, eine Frau finden, eine Familie gründen. Guvanch hat noch ein Studienjahr, was er danach macht, weiss er noch nicht. Wir hoffen sehr, dass wir diese sympathischen Menschen bald einmal wiedersehen – in der Schweiz, in Turkmenistan oder in der Türkei!

Im Bus nach Edirne sitzt neben uns eine syrische Flüchtlingsfamilie. Sie haben ein ganz klein wenig Glück im Unglück, sie haben Familie im Ausland. Aber in der Türkei können sie nicht Fuss fassen, sie finden keine Wohnung und die Kinder können nicht zur Schule gehen. Der Grossvater ist ca. 65-jährig, die jüngste der 4 Enkel ist ca. 6 Jahre alt. Ihnen geht es verhältnismässig gut – im Verhältnis halt zu all den anderen syrischen Flüchtlingen, die in den Strassen Istanbuls schlafen, die betteln oder Taschentücher verkaufen. In Istanbul sehen wir viel mehr als in den südöstlichen türkischen Städten etwas von dem Leid, das dieser Krieg hervorgerufen hat.

Wir sind per Rad aus der Stadt aufgebrochen, sind die 6.5km durch relativ ruhige Strassen bis zum Esenler Otogar geradelt. Viele Handlungen, viele Bewegungen sind immer noch automatisiert – obwohl wir doch ein Jahr lang anders gereist sind. Wir wissen genau, welche Tasche wie und wo festgemacht wird, wir können die schweren Ungetüme über schmale Bürgersteige lenken, wir wissen, wie schnell wir den Berg hinunter fahren– oder aber auch wie schnell wir ihn herauffahren – können.
Ganz hinaus, ganz bis an die Grenze nach Griechenland wollten wir aber nicht mehr fahren. Teile dieser Strecke sind wir vor einem Jahr gefahren und sie haben uns gar nicht gefallen. Und so ist das hier nun vermutlich die letzte Busreise bis wir in der Schweiz ankommen.

Wir geniessen es – genauso wie wir es nachher geniessen werden, von Edirne aus über die Grenze zu fahren, mit Muskelkraft, das Gesicht der Sonne zugewandt und die Haare im Wind!