2021 Italien (Napoli – Como)

07.08.2021-26.08.2021

Neapel – Castel Volturno – Gaeta – Latina – Lido di Ostia – Bracciano – Montefiascone – Todi – Perugia – Arezzo – Figline Valdarno – Borgo San Lorenzo – Firenzuola – Bologna – Reggio nell’Emilia – Cremona – Palazzolo sull’Oglio – Monza – Chiasso

Ich verstehe kein Wort! Spricht der Typ mit dem Pferd überhaupt Italienisch? Wir befinden uns irgendwo im nirgendwo, haben uns durch Gestrüpp über einen schmalen Trampelpfad mit unseren vollbeladenen Rädern den Weg gesucht und wissen nicht mehr weiter. Und da steht er, im Unterhemd, die Trense in der Hand, etwas finster schauend und meint, hier gehe es nicht mehr weiter. Sein Pferd wiehert zustimmend.

 

Zwei Stunden zuvor sind wir mit dem Flieger in Neapel gelandet, «tutto completo» mit Gepäck und Rädern und haben uns ins Gewühl gestürzt. Es ist heiss und die italienischen – ungeschriebenen – Verkehrsregeln verlangen uns einiges ab: es hupt links, jemand überholt rechts, aus der Seitengasse kommt ein Fiat uno geschossen. Alle schauen nach vorne – und es funktioniert (meistens…). Wir schwitzen!

Castel Volturno ist nur noch 20km entfernt, wir bahnen uns den Weg durch Abfallberge und fragen uns, wie Gartenhandschuhe, Ventilatoren, Kühlschränke, Bierflaschen, Müslitüten und vieles mehr in diese entlegene Gegend gelangen. Irgendwann wird die Strasse breiter und in der Dämmerung liegt der Lungomare vor uns. Der junge Mann, den wir nach dem Weg fragen lacht herzhaft, als er erfährt, dass wir geplant – jawohl, geplant – eine Nacht hier verbringen wollen. Es sei ja wohl einer der schäbigsten Orte an dieser Küste – und ganz unrecht hat er nicht.

Wir sind die ersten Gäste in der Pizzeria am Strand – und die letzten, die ihr Essen erhalten, so scheint es unseren hungrigen Bäuchen jedenfalls. Die Sonne ist schon über den Liegestühlen untergegangen, da steht unsere erste italienische Pizza auf dem Tisch – die trotz allem nach «mehr» verlangt.

«Achtung!» Wir sind schnell wieder im Reisemodus, warnen uns gegenseitig vor Schlaglöchern oder von hinten anrasenden LKWs; und halten synchron die Luft an, wenn es schon wieder nach «totem Tier im Strassengraben» riecht. Die Unterkünfte – ob gross ob klein – sind schnell heimelig eingerichtet, jeder nimmt «seine» Ecke in Beschlag und schon am 2. Tag ist der Rhythmus klar: Wecker um 5.55Uhr, losfahren um 7.00Uhr und Ankunft – wenn immer möglich – vor 13.00Uhr. Das bewährt sich, wenn das Thermometer auf knapp 40°C ansteigt. Das bewährt sich vor allem in Umbrien, denn dort scheint einfach jedes Dorf und jede Stadt auf einem mindestens 250m hohen Hügel zu liegen, der Schlussanstieg vor der verdienten Dusche ist hart!

Unsere erste Überraschung – noch im Latium – erfahren wir aber schon in Gaeta. Die Altstadt auf der weit ins Meer ragenden Landzunge ist atemberaubend schön! Unser B&B ist einzigartig – nur über Treppen erreichbar, relativ neu renoviert, mit riesiger Dachterrasse und Blick über Stadt, Kirchen und Meer! So schön haben wir selten gefrühstückt! Anna hat extra für uns schon um 6.30Uhr aufgetischt und wir schauen der Sonne beim Aufgehen zu!

Regionale Spezialitäten gibt es einige – in Gaeta ist es die «Tiella», eine Art gedeckter Mürbeteigfladen mit Füllung unterschiedlichster Art: Meeresfrüchte, Zucchetti, Schinken, Auberginen, Zwiebeln – was Land und Wasser hergeben wird verarbeitet, und mit Teig umhüllt – sehr lecker! In Perugia essen wir Farinata aus Kichererbsenmehl und überall auf dem Weg immer wieder lokalen Mozzarella. Latium ist Büffelmozzarella-Land, so scheint es uns!

Von Latina aus – eine Mussolini-Planstadt aus den 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts – zieht es uns wieder ans Meer. Dabei verpassen wir die richtige Ausfahrt und landen auf … der Autobahn? …einer 4-spurigen Schnellstrasse? Keine Ahnung, jedenfalls sollten wir hier nicht fahren und hieven unsere Räder über die doppelte Leitplanke auf die direkt parallel geführte Strecke. So erleben wir (fast) jeden Tag ein kleines Abenteuer.

Die Strasse entlang des Tyrrenischen Meeres ist auch so ein Abenteuer, voller inländischer Touristen die nur eines im Sinn haben: so wenig Stoff wie möglich am Körper tragen und diesen der Sonne, dem Sand und dem Meer auszusetzen. Lange Autokolonnen tuckern oft langsamer als wir auf den Rädern über Schlaglöcher und vorbei an Ruinen aus den 80-ern. Teils verfallen Hotels, teils sind die Pizzerien verstaubt und verwildert – ist das Coronas Schuld oder ist es schon länger her? Doch der Retro-look, die schlechten Strassen und die kaputten Zäune halten die Urlauber nicht davon ab, wie jedes Jahr, wie immer, ihr geliebtes Ferragosto am Meer zu verbringen.

Schon wieder fliegt mir eine Brombeerrute fast ins Gesicht; höchste Konzentration ist gefordert, beim Radfahren durch Italien. Warum nur sind auf fast allen Strassen ausgerechnet die äusseren 50cm so furchtbar uneben. Wir schauen nach unten – Schlaglöcher; wir schauen auf den Seitenstreifen – Gebüsch und Kadaver; wir schauen nach vorne – Ausfahrten sowie rasantes Ausparken/Einparken; wir schauen in den Rückspiegel – rasende LKWs. Als Team sind wir gut und schaffen das!

Lido di Ostia ist ein nettes kleines Stranddorf. Im Hotel fühlen wir uns wohl und der Spaggio libero (kostenfreier Strand) ist nett. Sind wir mit den Rädern unterwegs? Wir fügen uns gut ein zwischen all den Sonnenhungrigen und Urlaubssüchtigen. Mit der Cuopa Mare – frittierte Meeresfrüchte –  vervollständigen wir das Bild und als wir am Abend mit einer Eiscreme in der Hand die Migranten aus Bangladesch und ihr glitzernd-leuchtendes Spielzeug auf der Piazza beobachten, könnten wir genauso gut einfach Strandferien gebucht haben.

Das Landesinnere ist so anders! Die Hauptstrassen leeren sich, wir fahren tatsächlich manchmal ganz alleine durch die wunderschöne Landschaft, die sich langsam Richtung Umbrien verändert. Haselnusshaine säumen die Schotterpiste, die Bauern winken und grüssen uns und Wanderer auf dem Franziskusweg kommen uns entgegen. Und wir realisieren, dass wir für die letzten 10km eines jeden Tages mindestens 90min Fahrtzeit einrechnen müssen. Bracciano – am Lago di Bracciano, Montefiascone hoch über dem Lago di Bolsena, Todi mitten in Umbrien und zuletzt auch die Hauptstadt Umbriens – Perugia fordern uns heraus.

Nicht nur den Schlussanstieg haben diese Städte gemeinsam, sondern auch ihr mittelalterliches Flair. Wir fahren über Kopfsteinpflaster, tragen unsere Räder über Treppengassen zum Hotel und bewundern steinerne Bauwerke – Kirchen, Burgen, Schlösser und Stadttore – die fast unversehrt (so scheint es) die Jahrhunderte überstanden haben. Nach unserem obligatorischen Nickerchen während der heissesten Stunden des Tages machen wir uns «ausgehfein» und erkunden die engen Gassen und weiten Piazzas. Wir staunen jeden Tag aufs Neue über die Kulturgüter – und das muss mit einem Apero begossen und verarbeitet werden.

Ab spätestens 19.00Uhr befindet sich jeder Einwohner und jeder Tourist in jedem dieser Städtchen «fuori» (draussen) und zum Aperol-Spritz oder Campari-Spritz oder Hugo – oder was auch immer – werden unaufgefordert Chips, Bruschetti oder andere Stuzzichini (kleine Vorspeisen) gereicht. So suchen wir dann, oft nur wenige hundert Meter weiter, leicht angeheitert und nicht ausgehungert die nächste Osteria, Pizzeria oder Trattoria auf.

Perugia hat uns sehr beeindruckt, wir sind 2 Tage geblieben und haben das Flair in uns eingesogen. Irgendwann im Mittelalter hat irgendein Papst seine Macht demonstrieren wollen und eine riesige, teils unterirdische Festungsanlage gebaut. Diese ist kostenfrei für alle zugänglich, imposant und auch kühl während der heissen Stunden. An anderer Stelle haben die Etrusker – so scheint es – einen tiefen Brunnen gebaut, mitten in der Stadt, mehrere Hundert Meter tief. Noch heute führt er Wasser, aus 2 Quellen gespeist, wird aber nicht mehr als Trinkwasser genutzt. Trotz all der Altertümlichkeit hat Perugia den Anschluss an die Gegenwart nicht verloren, und so kann man als Autofahrer seinen Wagen «unten» auf einem Parkplatz stehen lassen und sich über mehrere Rolltreppen direkt in die Innenstadt verfrachten lassen.

Die Locanda San Pier Piccolo ist unsere Unterkunft in Arezzo – ein altes Kloster in dessen «Zellen» jetzt Touristen nächtigen. Fresken an den Wänden des Ess-Saals sowie verschiedene religiöse Statuen verteilt in den weitläufigen Fluren und Treppen zeugen von anderen Zeiten. Auch hier wieder Grandezza, Kirchen, viele Steine und wunderschöne Bauwerke.

Das Wetter und die Hitze beeinflusst unsere Entscheidungen stark – Entscheidungen was die Streckenlänge aber auch die Streckenführung angeht. Wir radeln weniger als üblich und vermehrt auf direkten, stärker befahrenen Strassen. Es ist ein Abwägen zwischen Weg und Ziel, zwischen langen Fahrzeiten und Mittagsschlaf. Diesmal haben Ziel und Mittagsschlaf gewonnen, wir finden uns immer wieder in grossartiger Umgebung wieder – auch wenn wir Ortschaften wie Filigne Valdarno, Borgo San Lorenzo oder Firenzuola noch nie gehört haben.

Der Apennin steht uns im Weg und den müssen wir irgendwie überqueren, wenn wir mit den Rädern zurück in die Schweiz wollen. Nach langem hin- und her steht fest, dass wir von Borgo San Lorenzo aus Richtung Bologna radeln – mit Umweg über Imola und Übernachtung in Firenzuola. 700 Höhenmeter (oder mehr) bringen uns hinauf zum Passo del Giogo, der im Zweiten Weltkrieg eine Schlüsselrolle im Zusammenhang mit der «Gotenstellung» gespielt hat – eine Frontlinie zwischen Alliierten und den deutschen Besetzern. Kriegerdenkmäler, Soldatenfriedhöfe, Krankenhausbunker und Museen säumen unseren Weg, der uns durch wunderschöne gebirgig-grüne Landschaft führt.

Das Mini-Dorf Firenzuola besteht eigentlich nur aus einer 500m langen Strassen mit Stadttor an jedem Ende und einem Hauptplatz in der Mitte. Hier findet an diesem Donnerstagabend die Dorfkaraoke statt. Die Leinwand ist aufgestellt, langsam dunkelt es ein, 2 hyperaktive Animatoren suchen Singwillige – und finden sie. Es macht Spass, die mehr oder weniger gut interpretierten italienischen Schnulzen zu hören, den Kindern beim radeln durch die Menge zuzuschauen und sich einfach am Gemeinschaftsgefühl zu ergötzen.

«Schau, ein Radweg!» Linker Hand dehnt sich ein frisch geteertes zweispuriges Band entlang der stark befahrenen Hauptstrasse aus. So etwas haben wir bisher noch nicht gesehen und freuen uns sehr. Nach ein paar hundert Metern schaffen wir es, die Strasse zu queren und rollen freudestrahlend nebeneinander in Richtung Bologna. Bis, ja bis plötzlich und unversehens die Schlaglöcher zunehmen und der Radweg völlig unerwartet an einer sehr gefährlichen Kurve im Gestrüpp endet.

Eigentlich sind wir ja schon lang – jahrelang – «gebrannte Kinder», was Radwege in Italien angeht. Sie erscheinen wie aus dem Nichts und enden ebenso, oft schon nach wenigen hundert Metern. Bis in die Reggio Emilia hinein haben wir uns meist gehütet, diese roten hubbeligen und schlecht instand gehaltenen Erscheinungen zu nutzen. Hier aber werden wir plötzlich überrascht – auf dem Weg von Bologna nach Reggio nell’Emilia fahren wir fast 50km nur auf Radwegen, vorwiegend auf der sogenannten «Sonnenroute», dem Eurovelo 7. So verwöhnt haben wir uns lange nicht mehr gefühlt!

Ähnlich gut ist der Weg von Cremona nach Palazzolo sull’Oglio – Radwege, teils über Schotterpisten, aber durch wunderbare grüne Landschaft.

Wir haben viele tolle Städte gesehen, immer wieder dachten wir: das ist jetzt die schönste auf unserer Reise. Und dann sind wir in Bologna gelandet. Ganz anders als die mittelalterlichen Städtchen auf den Hügeln Umbriens ist Bologna eine flache, heisse Stadt fast komplett mit Palazzi und Kirchen durchsetzt, mit einem Kanalsystem, das die Stadt mit Wasser versorgt und einem schiefen Turm, der Pisa glatt Konkurrenz macht. Wir bleiben 2 Nächte, flanieren durch Arkaden, geniessen den Apero auf belebten Plätzen und essen wunderbar gut und echt original ….. chinesisch! In einer kleinen Seitenstrasse hat «unser Chinese» 2 kleine Tische aufgestellt und am zweiten Abend sind wir schon gut Freund mit dem jungen etwas ungelenken Kellner der hauptberuflich Architektur studiert, aktuell im letzten Jahr, und nach dem Abschluss wieder nach China geht. Er ist fast verzweifelt, dass er kaum englisch spricht – und unser chinesisch und italienisch zu wünschen übrig lässt. So gerne würde er sich länger mit uns unterhalten!

Jeden Abend suchen wir uns ein Restaurant und jeden Abend ist es eine Gratwanderung zwischen Angebot auf der Menü-Karte, Preisen, Lokalität …. und Service!

Wir haben 20x «Z’nacht» gegessen auf dieser Reise und drei dieser Restaurantbesuche haben ordentlich zu wünschen übriggelassen:

  • die Pizza am ersten Abend, die erst nach einer Stunde an den Tisch gebracht wurde;
  • in Arezzo am Hauptplatz in einem teuren Lokal – meine 5 (!) mit Stockfisch gefüllten Tortellini; diese haben 22 Euro gekostet (etwas für den hohlen Zahn – und Zahnfüllungen sind halt teuer…); und die «Contorni» – also Beilagen zum Hauptgang – wurden 15min nachdem unsere Gedecke abgeräumt wurden an den Tisch gebracht.

Fehler können passieren, aber die typische italienische Ausrede heisst dann: «Nicht meine Schuld!»

Am letzten Abend in Monza wollten wir noch mal so richtig Pasta essen, haben uns das Restaurant genau deswegen ausgesucht. Die Vorspeisen kamen zügig an den Tisch und waren sehr lecker! Die weit aus später angekommenen Tischnachbarn hatten ihre Pizza schon aufgegessen und einen Kaffee auf dem Tisch, wir hatten immer noch nicht unsere Spaghetti und Paccheri mit Büffelmozzarella auch nur gerochen. Um 21.15Uhr haben wir gezahlt und sind gegangen – die Eiscreme zur Frustbekämpfung hat super geschmeckt!

Monza – unsere letzte Übernachtung – war erneut voller Überraschungen. Unser Zimmer im Stadtzentrum für Euro 57 einfach spitze – gross, modern und gemütlich. Und dann erfahren wir, dass sich hier in dieser Stadt, in der seit 1922 Autorennen veranstaltet werden, der größte ummauerte Park in Europa befindet. Ein tolles Naherholungsgebiet! Die nächsten Formel 1 Rennen finden Mitte September statt – dann kostet unser wunderschönes Hotelzimmer Euro 600 pro Nacht …

Punkt 13.30Uhr geht der Vorhang auf. Wir sind in Chiasso am Bahnhof und halten schon um 13.36Uhr unsere Zugtickets nach Aarau inklusive Fahrradreservation in der Hand! So sind sie, die Schweizer! Wir sind wieder zu Hause!

 

Italien, August 2021