27.03.-20.04.2014, Bishkek
Laut dröhnt der Beat aus den Boxen, Russendisko. Unser Taxifahrer erzählt mit Händen und Füssen, ein paar englischen und vielen kirgisischen Worten, aus seiner Jugend, und dass er damals auf diesen Song so richtig abgetanzt hat. Das Auto schaukelt und wir mit ihm – wir sind wieder hier!
Am frühen morgen, um 6:00Uhr, haben wir noch im T-Shirt geschwitzt, jetzt tragen wir Wollunterwäsche und zwei Jacken. Über den Wolken – während unseres ersten und einzigen Flugs auf dieser Reise – hat die Sonne geschienen, natürlich, aber jetzt ist es kalt, bedeckt und leicht regnerisch. Und trotzdem könnte unsere Laune kaum besser sein. Kirgistan hat uns zurück – wir sind wieder hier!
Der Flughafen ist klein, alles grau in grau. Air Astana hat uns sicher, äusserst luxuriös und zuvorkommend aus dem lieblichen Thailand in das kantige Zentralasien gebracht. Hier stossen die sich die Blicke am Beton und Metall, hier wächst wieder Unkraut aus den Gehwegen und hier müssen wir jeden Schritt mit Bedacht setzen. Es ist einfach wunderbar – wir sind wieder hier!
Auf dem Weg in die Stadt wird es schon langsam dunkel, die ersten kommunistischen Monumente rauschen vorbei. Das da ist ja die Jibek-Jolu. Und der graue Betonklotz mit grossem Wiedererkennungswert da vorne, auf der Chui, ist die Philharmonie. Dort sehen wir schon die Kievskaja. Ist das alles aufregend! Hier irgendwo werden wir die nächsten 2 Monate verbringen. Bishkek nimmt uns in seine Arme – wir sind wieder hier!
Das grosse Apartment haben wir im Internet gefunden. Emil ist ein toller Vermieter, die Wohnung aus Stalins Zeiten (genannt Stalinka) hat seiner Grossmutter gehört. Jetzt vermietet er sie tage- wochen- oder monatsweise. Es dauert eine Weile, bis wir den Eingang gefunden haben. Durch das grosse, rostige und quietschende Tor gelangen wir in den buckeligen Hinterhof. Die Haustüre steht Tag und Nacht sperrangelweit offen, das Schloss ist seit Jahren kaputt. Wir steigen die ausgetretenen und dreckigen Betonstufen hoch, fast wären wir auf die zerzauste Katze getreten, nach der das ganze Treppenhaus riecht. Wir können nur vermuten, dass die Wohnungstüre ohne Nummer der Eingang zu Apartment 4 ist – und läuten einfach einmal. Emil’s Schwester öffnet uns, es ist heimelig, der Fernseher läuft und mit unseren wenigen Russisch-Kenntnissen sowie den wenigen Englisch-Kenntnissen der Schwester wissen wir nach kurzer Zeit, was wir alles beachten müssen. Uns stehen drei grosse Zimmer, eine kleine Küche sowie Bad und Toilette zur Verfügung. Alles – inklusive Möbel – aus den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts, von wenigen Renovationen und Neuanschaffungen (z.B. Waschmaschine) einmal abgesehen. Unglaublich, aber wir fühlen uns so richtig wohl.
Schon am ersten Abend ist es uns, als seien wir „nach Hause“ gekommen. Die einfache Einreise (kein Visum!), der Taxifahrer, Emils Schwester, die bekannten Strassen, der Beton und die klotzigen Monumente – Bishkek ruft uns aus allen Schlaglöchern und jedem Stück rissigen Mauerwerks zu: Willkommen zurück!
Unsere erste Bekanntschaft ist das junge Pärchen aus dem „Tante-Emma-Laden“ unten im Haus. Die beiden sind supernett, und sprechen vor allem ein fliessendes und fast akzentfreies Englisch. Das ist für uns zum jetzigen Zeitpunkt fast noch überlebensnotwendig. So erfahren wir, was wir wo am besten einkaufen können und das Asal – die junge Frau – 3 Jahre in der Schweiz an der Hotelfachschule in Montreux gelernt hat. Ihr Traum ist es, ein kleines Restaurant in Bishkek zu eröffnen. Aziz, ihr junger Ehemann, spricht auch ganz gut Englisch, und seine Mutter lernt seit November letzten Jahres diese Sprache. Kaum sind wir eine Woche in Bishkek, habe ich schon das erste „Blind Date“ mit Saida, der Mutter von Aziz, damit sie mit mir Englisch üben kann. Ende April muss sie einen Vortrag auf einem Kongress halten.
Wir sind uns auf Anhieb sympathisch, quatschen wie zwei alte Freundinnen im Café bei einem „Tschai selonie“ – Grüntee – und finden heraus, das Saida und ich Berufskolleginnen sind. Saida will mich für’s Englisch-sprechen bezahlen. Ich weiss, alles hat seinen Preis, und so wünsche ich mir als „Bezahlung“ eine Anleitung zum Lagman-kochen (zentralasiatisches/uigurisches Nudelgericht). 3 Tage später stehen Roman und ich mit gefüllten Einkaufstaschen vor Saidas Wohnungstüre. Hier wohnt sie gemeinsam mit ihrem Sohn und der Schwiegertochter, der jüngeren Tochter Maftuna und dem Neffen Safar. Die Familie ist usbekischer Herkunft, und es ist nicht leicht, in Kirgistan Usbeke zu sein. Während der Sowjetunion sind die Völker mutwillig und teils absichtlich ordentlich durcheinandergeschüttelt worden. Was daraus geworden ist, nach dem Zerfall des grossen Reiches, erlebt die Welt aktuell auf der Krim, aber auch schon länger z.B. im Ferganatal, wo es u.a. in 2010 zu äusserst unschönen Unruhen in Osch und Umgebung gekommen ist. Die Usbeken hier werden teils verdeckt, teils offen angefeindet. Dies ist im Süden des Landes ein etwas grösseres Problem, hier in Bischkek wohnen Türken, Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Kasachen … usw. Seite an Seite. Was natürlich nicht heisst, das alles Eitel Sonnenschein ist.
…und noch mehr Impressionen
Erst das Hammelfleisch in Stücke schneiden und mit Zwiebeln, Tomatenmark und Öl in der Pfanne schmoren. Als wir ankommen, riecht es schon wunderbar nach Abendessen. Wir schneiden das mitgebrachte Gemüse in kleine Stücke, schreiben unsere Arbeitsschritte haarklein auf und wissen nun, dass wir beim Nudelkochen das Fenster auf keinen Fall öffnen dürfen. Sonst kleben die nämlich zusammen.
Diese Nudeln, das ist so eine Sache. Immer wieder haben wir die Profis beobachtet, wie sie aus einem Teigklumpen in wenigen Minuten ein halbes Kilo feine Nudeln gezogen haben. Mit ausladenden Armbewegungen und viel Teigklopfen auf dem bemehlten Tisch. So macht man das zu Haus nicht. Zaida hat den Teig schon vorbereitet und wir sehen die 1.5cm dicken und ca. 20cm langen Teigschlangen schneckenförmig aufgerollt und komplett eingeölt in der Schüssel liegen. Jede einzelne Teigschlange wird 2x zwischen den Fingern gedreht, bis sie ca. 10x so lang ist wie zuvor. Anschliessend halte ich das lose Ende in der einen Hand und wickele die Nudel wie einen Wollstrang mit noch ungelenken Bewegungen von einer Hand über die andere. Die ca. 5m lange Nudel werfen wir in kochendes Wasser, gut rühren, 10 Sekunden aufkochen. Fertig. Und das ganze 20x. Ein bisschen aufwendig, dafür schmeckt das Essen – Nudeln mit Hammelfleisch-Paprika-Sosse – einfach hervorragend. Wir haben zu fünft gekocht, zu sechst gegessen und zwei Stunden lang fast ausschliesslich englisch geredet. Das nennt man eine „win-win-Situation“. Und weil der Abend so toll war, lernen wir nächste Woche, wie man richtigen usbekischen Plov kocht.
Plov haben wir auch schon einmal gekocht, alleine und ohne Anleitung. Asal aus dem Laden unten hat uns erklärt, was man wann/wie machen muss und wir haben unser Bestes gegeben. Was dabei heraus kam, war eher Risotto mit Hammelfleisch… aber Emil, unserem Vermieter, der zufällig vorbeikam und die Einladung zum Essen angenommen hat, hat es dennoch gut geschmeckt! Er hat Roman, den Koch, schon mehrfach in emails gelobt …..
Plov MIT Anleitung kochen ist da ganz etwas anderes. So wenige Nationalgerichte wie es hier gibt, ist es fast schon eine Religion, wie man sie kocht. Das Fleisch muss in groben Stücken unten im Topf liegen, der Reis oben aufgeschüttet werden und das ganze – mit entsprechendem Gemüse, Gewürzen und Wasser erst sprudelnd kochen und anschliessend bei kleiner Flamme mit einem umgedrehten Teller auf dem Reis und einem Deckel auf dem Topf köcheln, ca. 35 Minuten lang. Auf gar keinen Fall rühren, und nur so selten wie möglich prüfen, ob der Reis schon gar ist. Denn sonst kann alles matschig werden, und dann hätte das Gericht wieder einen anderen Namen, klärt uns Aziz auf.
Aziz hat mit seinen 23 Jahren die Stellung des Oberhauptes in der Familie, denn Saida ist geschieden. Und Aziz ist zwar ein sehr sympathischer Bursche, aber reisst seinen Mund ganz schön weit auf, lässt den „Hausherrn“ heraushängen. Es fällt mir schwer, das zu ertragen, aber wir haben auf unserer Reise ja schon viel erlebt, und ich schaffe es, nur wenige Bemerkungen zu machen.
Auch der Plov-Abend – diesmal waren noch die Grosseltern mit dabei – war ein tolles Erlebnis! Wir haben uns viel unterhalten, viel gelacht und viel diskutiert – vor allem über Aziz‘ abgebrochenes Psychologie-Studium (er mochte Freud’s Lehren nicht …) und sein gekauftes Jura-Studium. Gehört haben wir das schon mehrfach, kennen tun wir bisher nur ihn, der nonchalant zugibt, einen Lehrer zu bezahlen, damit dieser ihm Prüfungsnoten ausstellt zu Prüfungen, die er nie abgelegt hat. Die Korruption geht bis tief hinunter – oder besser natürlich: bis ganz nach oben! Naiv wie ich bin, bin ich ziemlich schockiert!
Über 3 Wochen sind wir schon in Bishkek, die Zeit vergeht wie im Flug. Unser Kalender /unsere Agenda ist fast so voll wie früher in Aarau. Roman arbeitet fleissig bei Babushka-Adoption, ich gehe jeden Tag 6 Stunden zur Schule – und mache noch ca. 2 Stunden Hausaufgaben. Dann gibt es viele schöne Cafés und Restaurants, wir treffen Freunde, Bekannte und auch Unbekannte – mit denen wir tolle Abende verbringen. Die Natur in der näheren und weiteren Umgebung lädt zu Spaziergängen und Erkundungen ein, wir haben Basare und Einkaufszentren – nein, langweilig wird uns definitiv nicht.
Irgendwie hat Roman herausgefunden, dass im Russischen Drama Theater die kirgisische „Fashion-Week“ stattfindet. Nichts wie hin, haben wir uns gesagt und mit meinen neuen 15cm-Absätzen aus dem Ausverkauf und einem hübschen Kleid aus Vietnam bin an Romans Arm den einen Kilometer dorthin gestolpert.
Es hat sich gelohnt, definitiv! Auch in Kirgistan gibt es hochgewachsene superschlanke Frauen mit „Beinen bis an den Hals“. Aber die sieht man nur selten auf der Strasse. Hier jedoch laufen sie im Foyer vorbei an den kargen „Babymode“- Auslagen und stolzieren in aufgebauschten Kleidern mit ihren stundenlang frisierten Haaren vor zerfallenden Betonplatten und blinden Spiegeln. Vorbei an den Models und einigen zersessenen Sesseln finden wir unseren Weg über unebene Stufen hinein in den grossen Saal. Die „Platzdame“, sind wir uns sicher, wurde aus den fünfziger Jahren, aus dem grossen Bruderland, hierher gebeamt. Frisur, Figur und Hautfarbe – alles kommt aus einer anderen Zeit und der knappe militärische Ton, mit dem sie uns ohne zu Lächeln unsere Sitze zeigt, löst bei uns unkontrolliertes Grinsen aus.
Es ist eine kleine, feine Modenschau. Designerinnen aus vorwiegend Kirgistan, aber auch Usbekistan, haben sich offensichtlich Streetwear mit traditionellen Einflüssen zum Thema genommen. Was dort gezeigt wird – unprofessionell, teils mit wankendem Schritt – würde ich, wäre ich mutiger, auch anziehen. Es sieht bequem, bunt und tragbar aus. Und für unsere Augen ganz und gar neu.
Ausser der Fashion week, so erzählt uns Begaim, findet am 2. und 3. Aprilwochenende auch das kirgisische Jazzfestival statt. Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen, und schon wieder muss das vietnamesische Kleid herhalten, zusammen mit den Stöckelschuhen. Auch die schwarze Treckinghose passt gut dazu – wirklich!
Jazz beginnt hier um 18:00Uhr, die „Abendkasse“ ist auch genau bis dahin geöffnet, anschliessend hätte man das Nachsehen. Wir geniessen diesen ersten Jazzabend nach langer Zeit, auf den roten Samtsitzen der Philharmonie, mit einer fantastischen Akustik die ihresgleichen sucht! Vielleicht ist Beton das richtige Baumaterial für Konzertsäle.
Die kirgisischen Bands spielen gut, mit viel Emotionen und Kitsch, aber ohne Innovation, so scheint es uns. Am gleichen Abend spielen aber auch eine deutsche und eine österreichische Jazzband. Die Deutschen – eine bayrische Band namens «Passacaglia» – bringen Leben in die Bude, und vermengen Jazz, Barock und Kammermusik zu einer gut gelaunten Präsentation. Uns gefällt, was die Jungs machen, den Kirgisen auch. Aber was haben die Turkmenen in Ashgabat dazu gesagt, die vor einer Woche diese Kunst geniessen durften? Darf man in Turkmenistan erst klatschen, wenn der Präsident applaudiert? Aber das ist wieder ein anderes Thema.
Eine Woche später wollten wir die Amerikaner hören. Ein ganzer Abend in der Philharmonie war ihnen gewidmet. Hm, uns hat es nicht gefallen. Hochvirtuose Klaviermusik, eher klassisch anmutend, mit einem fantastischen Schlagzeuger, unterlegt von E-Guitarre und alles scheinbar total emotionslos vorgetragen. Zumindest sprang der Funke nicht über, und wir sind mitten in der Vorstellung gegangen; so einen wunderbaren Frühlingsabend vor Ostern kann man besser verbringen.
Ja, mittlerweile ist der Frühling angekommen. Vor genau einer Woche noch hat es geschneit, der Schnee ist über Nacht sogar liegen geblieben. Heute ist es angenehm mild, in den Ästen der Bäume hat sich ein grünes Versprechen verfangen und spätestens seit dem Ostersonntagabendregen hat der Winter seinen Hut nehmen müssen.
Ostern in Kirgistan – die muslimischen Kirgisen lieben diesen Tag. Sie lieben die bunten Eier und die süssen Kuchen. Die Kirgisen haben, wie ich vor kurzem hörte, vom Islam nur so viel aufgenommen, wie in ihre Nomaden-Satteltaschen passte. Und nun sind sie die besseren Ostereieresser.
Wir sind zu spät gekommen, zur Orthodoxen Kirche an der Jibek-Jolu. Aber ein wenig vom Flair der hiesigen Christen hängt noch in der Luft. Христос воскрес – Christus ist auferstanden. Ringförmig um die Kirche haben sich die Gläubigen – oder zumindest einmal die Osterkuchenbäcker und Eierfärber – aufgereiht und verkaufen ihre Waren. Die Sonne scheint, die Kleider sind bunt, die Kopftücher liegen artig um Haupt und Haar – Kirgistans orthodoxe Gemeinde ist, wie nicht anders zu erwarten, primär russisch. Und primär arm. Viele Bettler warten vor dem Haupteingang, und viele der Gebenden sehen nicht wesentlich besser gekleidet aus.
Unser Osterspaziergang bringt uns – geplantermassen – in Aussenbezirke der Hauptstadt. Hier verirrt sich normalerweise kein Tourist hin, und wir sind froh, die Kamera dabei zu haben. Heute schauen wir Stadt, Menschen und „kommunistische Kunst“ an; gestern war Natur angesagt. Der Ala-Archa-National-Park liegt 40km südlich von Bishkek auf 2200müM. An den Strassenrändern liegt noch Schnee, die Wege sind weitgehen frei und der Spaziergang durch das wilde Tal ist kurz aber schön. Zwei Mal werden wir von Einheimischen darauf aufmerksam gemacht, dass wir doch im Juni wiederkommen sollen. Dann sei hier alles frisch und grün. Ja, schade, aber dann befinden wir uns schon auf der Weiterreise.
21.04.-25.05.2014, Bishkek und noch mehr (Chong-Kemin, Karakol, Saruu, Kochkor, Naryn, Tash-Rabat)
Übermorgen wird alles anders, 2 Wochen lang.
Nachdem wir nun ein ganzes Jahr mehr oder weniger zu zweit alleine gereist sind, heisst es: Umstellung auf Familienleben. Das habe ich gewollt, das ist von langer Hand geplant und ich freue mich sehr. Gleichzeitig bedeutet es aber auch: die traute Zweisamkeit, die wir nun doch fast 400 Tage lang genossen haben, kurzfristig hinten anstellen. Roman und ich, wir sind bisher auf unserer Reise nicht länger als 8 Stunden am Stück getrennt gewesen. Nächsten Dienstag fahre ich 7 Tage lang ohne ihn mit meinen Eltern, mit meiner Schwester sowie Nichte und Neffe durch das schöne Kirgistan. Ob wir das durchhalten?
Wir haben es durchgehalten! Und die Zeit mit Mo, Thore und Ida, mit meinen Eltern war toll. Zunächst sind die ersten drei angekommen. Das Wetter hat mitgespielt und wir haben bei Sonnenschein im Panfilov-Park gesessen, haben mit Begaim einen schönen Nachmittag verbracht und ihre Tochter Adina und meine Patennichte Ida beobachtet, wie sie ohne gemeinsame Sprache wunderbar miteinander gespielt haben. Mit dem Sammeltaxi sind Roman und ich mit meiner Muschpoke gen Süden gefahren. Mo und die Kinder sollten Kochkor und den samstäglichen Viehmarkt sehen, bevor unsere Eltern am frühen Montagmorgen das Familientreffen fast komplett machten. Wunderbar, wie unkompliziert die Kirgisen mit Menschen, mit Kindern im Besonderen, umgehen. Ida konnte unserer Gastgeberin Gükü in der Küche helfen, und beim Betten machen. Ganz ohne Worte.
Die Eltern haben wir im Hotel „um die Ecke“ untergebracht, ganz „sowjetisch“ und nicht ganz einwandfrei für Europäer. Wir merken das schon gar nicht mehr…
Super, dass meine Eltern sich durchgerungen haben, uns und dieses wunderschöne Land zu besuchen. Die Anreise ist beschwerlich, das Leben und Reisen hier auch nicht ganz einfach. Und alles hat gut geklappt. Natürlich auch dank der tollen Organisation durch Novi Nomad und dank der perfekt deutsch sprechenden Reiseleiterin Anara. 7 Tage bin ich dem „Alltagstrott“ aus Bishkek entflohen, 7 Tage mehr oder weniger die gleiche Route abgereist, wie schon im Oktober letzten Jahres. Wir haben in Chong-Kemin eine Jurte aufgebaut und sind reiten gewesen (ja, auch mein 80-jährer Papa), wir sind rund um den See gefahren und auf Basaren und in Restaurants gewesen, haben unsere Zehen in den Issyk-Kul getaucht – und schnell wieder herausgezogen. Wir haben in einem kleinen Hotel geschlafen, und bei Familien übernachtet. Letzteres ist immer wieder ein tolles Erlebnis, die überfüllten Tische, die Marmeladen und das fettgebackene Brot, die Suppen und die Hauptgerichte, vor allem aber die Gastfreundschaft!
Leider mussten wir Mo, Thore und Ida schon nach 4 Tagen gen Heimat schicken – mit den Eltern bin ich weiter nach Kochkor und Naryn gereist. Der Song-Kul, ein Highlight jeder Kirgisienreise und ein eingeplanter Abstecher, hat sich uns verweigert. Nur wenige Kilometer vor dem See war uns der Weg durch eine tiefe Schneeverwehung versperrt. Wir haben uns für einen einstündigen Spaziergang entschieden, der auf 3000müM dann zwar anstrengend war, sich aber auch gelohnt hat: immerhin haben wir einen Blick auf die Nordhälfte des Song-Kul werfen können. Jurten standen noch keine dort, einzig ein radfahrendes Paar aus Deutschland hat sein Zelt dort aufgeschlagen. Wunderbar, diese Einsamkeit, diese Ruhe, diese Naturgewalt!
Anaras Familie wohnt in Naryn und wir wurden bei ihnen zum Essen eingeladen. Anlass war eine Gedenkfeier für den vor kurzem verstorbenen Bruder des Vaters. Als wir ankamen war das Haus voll, die Tische zum Bersten überladen, und es wurde immer mehr Essen aufgetragen! Wir wurden fürstlich bedient, an den Ehrenplatz gesetzt und einfach im Kreis der Kirgisen aufgenommen. Unvergesslich! Auf einmal wurde alles still, ein Freund der Familie zitierte während ca. 3 Minuten Zeilen aus dem Koran zum Gedenken des Verstorbenen. Im Anschluss wurde eine Runde Vodka ausgegeben. Die Kirgisen sind durchwegs ein spirituelles Volk. Nach dem Essen wird immer von allen Gästen per Handzeichen und mit dem Wort „Omin“ gedankt. Sie sind Muslime mit schamanistischem Einfluss, sie beten zu Gott und Mutter Erde. Diese Mischung macht sie für uns ausgesprochen sympathisch.
Nach einem Besuch der einzigen Karavanserei in Kirgistan – Tash Rabat, am Fuss des Tienshan und unweit der Grenze nach China – hiess es schon wieder: Rückreise nach Bishkek. Wir haben mit den Eltern in unserem zentral gelegenen und grossen Apartment noch zwei ganze und schöne Tage verbracht, sind in der Stadt spaziert, haben den stolz marschierenden Wachen vor dem weissen Haus bei der Wachablösung zugeschaut und uns ins Gewühl des Dordoi-Basars gestürzt. Dies ist der grösste Basar in Zentralasien, mit tausenden von Schiffscontainern als Verkaufsständen und Millionen verschiedener Verkaufsartikel aus China, Kasachstan, Türkei und vielen anderen Ländern.
Und in die Türkei sind meine Eltern am frühen Morgen weitergereist. Ein unternehmungslustiges Paar, diese beiden, und ein Vorbild für mich!
Und jetzt geht der „Alltag“ wieder weiter, noch 14 Tage lang, dann verlassen wir Kirgistan mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Insgesamt haben wir auf unserer Reise dreieinhalb Monate in diesem schönen Land verbracht, wir haben Menschen lieb gewonnen und Freundschaften geschlossen. Wir haben „altbekannten“ Orten erneut einen Besuch abgestattet und viel Neues kennen gelernt. Wir sind – durch Erfahrungen aber auch durch konkrete Fragen – tiefer in die Kirgisischen Traditionen eingedrungen, verstehen dieses nomadische Volk mit unverkennbarem sowjetischen Einfluss immer besser.
Während wir durch Chong-Kemin, schon wieder, spaziert sind, entlang des Flusses und vorbei an lachenden Bauersfrauen, haben wir kopfschüttelnd über die geraubte Braut in unserem Freundeskreis gesprochen. Noch bis 2010 war es gang und gäbe, dass die verehrte Frau, oder auch einfach eine schöne Frau, die einem über den Weg lief, vom jungen, testosterongesteuerten Mann entführt wurde. Diese Entführung konnte ganz gewaltlos stattfinden, konnte einfach eine Einladung zum Essen sein. Dann aber, nach bestimmten Ritualen, wurde die Frau den (in die „Entführung“ eingeweihten) Eltern des Mannes vorgestellt, ein weisses Kopftuch um den Kopf der Frau gelegt – und sie hatte ohne wenn und aber diesen Mann zu heiraten. Viele Tränen sind aus diesem Grund schon in Kirgistan geflossen, viele Träume junger Frauen zerstört worden. Eine Auflehnung gegen diese Tradition ist erst seit 2010 möglich, seit der Brautraub von offizieller Stelle verboten (aber deswegen noch lange nicht vorbei) ist. So kommt es, dass sich in unserem Freundeskreis eine geraubte Frau befindet. Sie und ihr Mann waren bei uns zum Abschiedsessen eingeladen. Ein lustiges Paar, sie haben sich nach langem inneren Kampf gefunden und respektieren und ehren sich gegenseitig. Sie gehen dieses Wochenende zusammen feiern, drei Tage lang mit Freunden des Mannes, mit einem neuen Kleid aus der Türkei und neuer Haarfarbe für die Frau. Und ohne die Kinder, die bei den Eltern bleiben können.
Uns scheint, unsere Freundin ist hin und her gerissen zwischen Tradition und Moderne, zwischen der ihr zugewiesenen Rolle als Frau und der emanzipierten Rolle, die sie selber für sich sieht. Es ist nicht einfach, eine starke Frau zu sein in diesem Land. Doch das Land hat viele starke Frauen.
Die Teetasse darf ich nur zu 1/3 füllen. Sonst werde ich ausgelacht. Unsere usbekischen Freunde sind zu Besuch, ganz unkompliziert, und wir servieren „G’schwelti“ mit Appenzeller-Fondue (danke Mo, für’s Mitbringen). Da wir nicht sicher sind, ob der Käsegeschmack „ankommt“, haben wir nur kleine Portionen vorbereitet, als Hauptgericht gibt es Pasta und Tomatensauce. Dazu Salat. Sicher ein besonderes Abendessen für diese Familie, auch, weil Roman immer wieder aufsteht, immer wieder in die Küche geht, immer wieder Teller wegbringt und Neues auftischt. Das verleitet Aziz, das 23-jährige „Oberhaupt“ der eingeladenen Familie, dazu, doch auch seine Hilfe anzubieten. Für uns erstaunlich, aber wir wissen ja nicht, ob er zu Hause, ohne Gäste, nicht auch immer mithilft.
In die Alamedin-Schlucht, südlich von Bishkek, hat es uns ebenfalls wieder gezogen. Der alte Kurort „Tyoplye Klutchi“ hat es uns angetan, wir wollten die Erfahrungen vom Herbst wiederholen. Und jetzt war alles anders. Menschenmassen. Tausende, strömen an schönen Frühlings- und Sommerwochenenden in dieses Naherholungsgebiet. Wir ergattern, so gerade eben noch, eine Unterkunft, und machen es uns gemütlich in dem kleinen Apartment. Um uns herum wird gegrillt, gegessen, gefaulenzt, gequatscht, gespielt und gesungen. Kinderstimmen hallen vom anderen Flussufer zu uns rüber – aber wir trauen uns nicht über diese schmale, wackelige Brücke ohne Geländer. So gehen wir einen neuen Weg, der uns schon nach knapp einem Kilometer in die Einsamkeit führt. Wer hier noch anzutreffen ist, ist entweder Europäer (die müssen ja immer wandern) oder Hirte hoch zu Ross. Vereinzelte Kirgisen sehen wir mit Angelrute, sie fischen delikate Forellen aus dem schnellfliessenden Gewässer. Hier, umgeben vom Rauschen der Bergbaches, von sanft geschwungenen Hügeln und mit Blick auf die hohen, kargen, schneebedeckten Felsen fühle ich mich glücklich und frei!
Im Kurort treffen wir auf junge Leute und alte Menschen, die alle das Gleiche im Sinn haben: eine Stutenmilchkur. Dies ist eine kirgisische Frühlingstradition zur Reinigung von Körper und Seele. Alle 2 Stunden wird die dir zugewiesene Stute gemolken, oft in deiner Anwesenheit, und du trinkst 200ml frische, warme Stutenmilch. Fünf mal am Tag. Ein Liter Stutenmilch am Tag, zehn Tage lang, und du fühlst dich wie neu, die Schadstoffe werden aus deinem Körper transportiert, es ist eine Verjüngungskur – erzählt uns die junge Frau aus Bischkek und zieht genüsslich an ihrer Zigarette.
Auch der junge kirgisische Neurochirurg, Freund von Aidai und ebenso wie wir zu Besuch zu einem Festmahl bei ihr, macht gerade eine Stutenmilchkur. Als Mediziner, Chirurg, Wissenschaftler und sehr gebildeter Mensch ist er felsenfest der Meinung, schon nach wenigen Tagen die positiven Auswirkungen zu spüren. Es gebe zwar keine Studien dazu, antwortet er mir auf Nachfrage, aber diese Kur helfe bei Krebs und Psoriasis. Auch hier verweben sich Tradition und Moderne, Wissenschaft und Glaube. Und uns wird erneut bewusst, welchen Stellenwert das Pferd in Kirgistan einnimmt!
Aidai ist Roman’s „Chefin“ bei „Babushka Adoption“, ein ewig liebenswerter Wirbelwind aus guter Laune, Lachen und Gastfreundschaft. Die Sympathie beruht auf Gegenseitigkeit, Roman hat wertvoller Erfahrungen – und wunderbare Bilder – sammeln können in den zwei Monaten hier. Und Aidai wird nicht müde, im Trinkspruch ihre Dankbarkeit gegenüber diesem tollen Menschen und einsatzbereiten Volunteer zu erwähnen. Der Tisch biegt sich im 5. Stock eines Hochhauses im Mirkrorayon Tungutsch. Neben uns sitzen auch noch die zwei Lehrerinnen von Aidais ältestem Sohn, Aidais Mutter und der erwähnte Neurochirurg im Wohnzimmer. Die Kinder toben um uns herum – und über uns hinweg, der Fernseher läuft und wir schauen Fotoalben von der Hochzeit und den Kindern an. Auch wenn wir schon längst satt sind, wird uns eine weitere Portion Manti aufgeladen, oder zum Nachtisch eine weitere Schüssel Eiskrem einfach hingestellt. Nach 6 Trinksprüchen – Aidai, Roman, beide Lehrerinnen, Aidais Mutter und ich – sind 2 Weinflaschen geleert, es geht uns gut. Wir merken gar nicht, wie der Abend vergeht.
Unser letzter Abend mit kirgisischen Freunden, unser Abschiedsessen sozusagen. Morgen wird geputzt, gepackt und übermorgen reisen wir weiter nach Kasachstan.
Vieles funktioniert nicht nach Plan, und das ist gut so. Wir werden nach zwei Monaten Sesshaftigkeit wieder flexibler in Gedanken und Taten.
Wir freuen uns!