Neue Takte aus Rabat
Rabat ist zwar das unbestrittene Zentrum des marokkanischen Kulturlebens; doch dieses nimmt sich im Vergleich mit europäischen Grossstädten eher bescheiden aus. In letzter Zeit ist allerdings Bewegung in die Rabater Kulturszene gekommen. Ein kürzlich erstmals abgehaltenes Festival stellt gar einen eigentlichen Quantensprung dar.
(NZZ, Beat Stauffer, 26.06.2002)
Die marokkanische Hauptstadt Rabat hat den Ruf einer langweiligen Beamtenstadt. Tagsüber ist alles betriebsam; doch schon gegen zehn Uhr nachts wirkt das Stadtzentrum wie ausgestorben. Bloss ein paar junge Männer der «jeunesse dorée», die mit schweren Motorrädern durch die breiten Boulevards der Neustadt preschen, vermitteln dann noch einen Hauch von südlichem Lebensgefühl oder zumindest von Machismo. Dasselbe biedere, ja schläfrige Image hing, zumindest bis vor kurzem, auch dem kulturellen Leben der Stadt an. Böse Zungen reduzierten das Kulturangebot gerne auf Empfänge in Botschaften, ein paar klassische Konzerte und Vernissagen. Dieses Bild war schon immer unzutreffend, wenn es auch den Verhältnissen während der Herrschaft König Hassans recht nahe kam, und es berücksichtigte weder die völlig andere kulturelle Tradition Marokkos noch die schwierige Situation eines in Entwicklung begriffenen Landes.
Quantensprung dank königlichem Willen
Und jetzt dies: ein Festival, wie es Rabat noch nie gesehen hat. «Mawâzine – Rythmes du monde» soll von König Mohamed VI. persönlich veranlasst worden sein. Kenner der Rabater Kulturszene zweifeln nicht einen Moment daran, dass dieses neue, vierzehntägige Festival, das Ende Mai über die Bühne ging, dem Willen des jungen Königs entsprungen ist, im kulturellen Bereich neue Zeichen zu setzen: für eine Öffnung des Landes auch im Kulturbereich und für eine klare Abgrenzung gegenüber isolationistischen Strömungen, die auch in Marokko zusehends an Boden gewinnen. Mit einem international konkurrenzfähigen Festivalprogramm soll nicht nur das Image des Landes aufgewertet, sondern auch die Jugend erobert werden, die in beängstigendem Mass in Resignation versinkt.
«Mawâzine» – zu Deutsch Taktik – stellte für das Publikum eine Premiere, aber auch eine Herausforderung dar: das Erstere bezüglich der professionellen Organisation und der Qualität der auftretenden Künstler, das Zweite in thematischer Hinsicht. Denn «Maroc Cultures» hatte nicht nur zahlreiche Künstler ersten Ranges – etwa den senegalesischen Sänger Youssou N’Dour – eingeladen und für die Ausstellungen mit international anerkannten Museen zusammengearbeitet; der Blick richtete sich ausschliesslich auf Schwarzafrika und Lateinamerika. Ein geschickter Schachzug auch dies; denn das Unbehagen angesichts einer drohenden kulturellen Überfremdung durch die westlich-amerikanische Kultur findet auch in Marokko starken Widerhall.
Vor allem die Öffnung auf Schwarzafrika hin ist in Marokko, wo sich man traditionell in der andalusisch-arabischen Kultur verankert sieht und wo die offizielle Politik sich schon mit der einheimischen Berberkultur schwer tut, alles andere als selbstverständlich. Noch grösser aber dürfte der Tabubruch in Bezug auf die – im Islam verbotene – Darstellung des menschlichen Körpers gewesen sein. Die nackten, aus Lehm geformten Leiber des senegalesischen Bildhauers Ousmane Sow, die Choreographien junger marokkanischer Tanzkünstler, aber auch die Körpersprache mancher Musiker dürften hier klare Zeichen gesetzt haben.
Als Beobachter stellte man sich gelegentlich die bange Frage, wie wohl ein islamistisches Publikum auf diese Darbietungen reagieren würde. Einzig der Umstand, dass das Festival unter dem Patronat des Königs stand, so ist zu vermuten, dürfte eine gehässige Auseinandersetzung in den Medien verhindert haben. Nadia Yassine, eine der prominentesten islamistischen Stimmen des Landes, verurteilte das Festival klar als Beruhigungspille für die Jugend. Es gäbe, so meinte die resolute Kritikerin, im Land ganz andere Prioritäten als derartige Anlässe.
Das Festival ist zu Ende, der Alltag wieder eingekehrt. Wie sieht dieser Alltag in kultureller Hinsicht aus? Nicht sprühend vor Leben, aber auch alles andere als trostlos. Zwar kann sich Rabat, vergleicht man mit europäischen Städten derselben Grösse, nicht allzu viel auf sein kulturelles Angebot einbilden. Doch innerhalb Marokkos hat Rabat unzweifelhaft die Nase vorn. Hier befinden sich die wichtigsten nationalen Kulturinstitute des Landes, etwa das Nationaltheater, aber auch die bedeutendsten Ausstellungsräume und Galerien. Dazu kommen historische Bauwerke, die sich hervorragend für Musik- oder Theateraufführungen eignen. Vor allem aber gibt es dank den zahlreichen Universitätsinstituten und Ministerien ein an Kultur interessiertes Publikum, das auch über die dafür notwendigen finanziellen Mittel verfügt.
Die Institutionen, die dem Kulturministerium unterstehen, müssen allerdings mit äusserst bescheidenen Ressourcen auskommen. Eingeweihte glauben zu wissen, dass der «Service culturel» der französischen Botschaft über ein grösseres Budget verfügt als das marokkanische Kulturministerium insgesamt. Das schränkt den Handlungsspielraum ohne Zweifel gewaltig ein. Sowohl europäische wie auch marokkanische Beobachter diagnostizieren überdies eine gewisse Schwerfälligkeit, wenn nicht gar einen Mangel an fachlichem Know-how und Ideen bei den zuständigen Kulturbürokraten. Dass die beiden wichtigsten Ausstellungsräume in Rabat während fast zweier Jahre wegen Renovationsarbeiten gleichzeitig geschlossen wurden, sei für das kulturelle Leben in Rabat schlimm gewesen, ereifert sich etwa Sylvia Belhassan. Die gebürtige Zürcherin leitete während zwanzig Jahren eine bedeutende Galerie in Rabat und amtet seit 1998 als Direktorin der «Villa des Arts» in Casablanca, des mit Abstand schönsten Kulturzentrums der Wirtschaftsmetropole.
Eine zentrale Rolle im Kulturleben von Rabat spielen ohne Zweifel die ausländischen Kulturinstitute, allen voran das «Institut Français». Die kulturellen Aktivitäten der ehemaligen Protektoratsmacht sind allerdings eine heikle Angelegenheit und werden von marokkanischer Seite mit Argusaugen verfolgt. Umgekehrt erlaubt sich die französische Seite durchaus auch ein paar Seitenhiebe in Richtung ihrer marokkanischen «Partner». Diese hätten gegenüber den französischen Kulturzentren oft eine «zwiespältige Haltung», moniert ein intimer Kenner der Lage. Man nehme gerne die Angebote dieser Institute in Anspruch, verwahre sich aber dagegen, dass dort von Frankreich die Rede sei. Einzig Themen mit einem marokkanischen Bezug hätten eine Chance, hier ein Publikum zu finden. Viele marokkanische Intellektuelle erwarteten zudem, dass ausländische Kulturinstitute Dinge unternähmen, die, bei Licht betrachtet, eigentlich Sache des hiesigen Kulturministeriums seien; so etwa die Förderung junger marokkanischer Künstler. Der Gesprächspartner glaubt hier gar einen «Komplex der Kolonisierten» wahrzunehmen. Die französisch-maghrebinische Hassliebe, so der Eindruck, macht sich auch im Kulturleben bemerkbar.
Förderung der Weltoffenheit
Derartige Probleme kennt das wesentlich kleinere Goethe-Institut nicht; die Beziehungen zwischen Deutschland und Marokko sind vergleichsweise unbelastet. «Wir versuchen hier aktuelle deutsche Kultur für gebildete Marokkaner darzubieten», erklärt Manfred Ewel, der Leiter des Goethe-Instituts. «Interessante und raffinierte Kulturbegegnungen» wünsche er sich, und dafür, ist Ewel überzeugt, gebe es in Rabat durchaus ein Publikum. Bei der Planung seiner Angebote versuche er sich immer in seine marokkanischen Gäste zu versetzen. Dabei kommen Ewel seine Arabischkenntnisse zupass. Regelmässig werden denn auch im Goethe-Institut Veranstaltungen in arabischer Sprache angeboten. Bei diesen Veranstaltungen, so die Erfahrung von Ewel, seien die «Expatriés» nicht dabei, und das tue zur Abwechslung mal ganz gut, fügt er verschmitzt an.
Das grösste «Geschenk» Europas, meint Manfred Ewel, seien aber nicht die ausländischen Kulturinstitute, sondern der Kulturkanal Arte. Dieser TV-Kanal werde von der gebildeten Schicht in Marokko stark beachtet und leiste einen entscheidenden Beitrag in der Förderung von weltoffenen, toleranten Haltungen. Und diese sind bekanntlich nicht nur südlich des Mittelmeers von verschiedenen Seiten bedroht.