China_Xinjiang

31.10.-11.11.2013, Provinz Xinjiang: Kashgar – Hotan – Kuqe – Turpan – Hami

Nase, Ohren und Zehen sind uns nicht abgefroren, obwohl wir am Tag des Grenzübertritts auch auf der chinesischen Seite noch lange unterwegs waren. Zunächst einmal hielten wir schon nach kurzer Taxifahrt im „ewigen Eis“ (was natürlich nicht stimmt) und mussten eine weitere Stunde gemeinsam mit den vielen Passagieren eines Arbeiterbusses an der recht frischen Luft abwarten, bis die Zöllner hier unten ihre Mittagspause beendet hatten. Nach der pro forma-Gepäckkontrolle – die Packtaschen aller Reisenden wurden in wildem durcheinander durch die Durchleuchtung geschickt und genauso ungeordnet wieder eingesammelt ohne eine einzige wirkliche Taschenkontrolle – fuhren wir nun endlich ohne wesentliche Verzögerung nach Kashgar ein. Einzig ein armer Vogel musste zwischendurch noch sein Leben lassen. Nachdem es ordentlich geknallt hat, während der Fahrt, legte unser Driver schnell den Rückwärtsgang ein. Wir haben nicht recht verstanden, was nun passiert, da der Vogel diesen Aufprall sicher nicht überlebt hat. Dennoch hielt der Fahrer an, der Beifahrer stieg aus und strich dem in den letzten Zügen liegenden Federvieh zart über den Kopf, murmelte dabei „Bismillah al rahman wa ar rahim“. Mit dem nächstbesten scharfkantigen Stein hat er dann dem Vogel den Kopf abgehackt, ihn ausbluten lassen und in einem Plastiksack mit ins Auto genommen. Jetzt wissen wir auch, was es bei ihm heute zum Abendessen gibt.

 

10 Tage sind wir nun in der Provinz Xinjiang unterwegs. So richtig warm geworden sind wir mit China bisher noch nicht. Das liegt einerseits rein physisch an den Temperaturen ausserhalb und besonders aber innerhalb der Hotels, andererseits auch – rein psychisch – an unseren Erwartungen.

Wir haben zweierlei erwartet: das China der Seidenstrasse und das China der Neuzeit.

Die Seidenstrasse ist über ihre gesamte Länge in den Köpfen derer, die sie bereisen wollen, stark romantisiert. Wir denken an Karavanen, an Händler, an Stoffe und Religionen. Wir denken an Gewürze und Trockenfrüchte, an Kamele, Schafe und Pferde. Wir denken an Entbehrungen während der Reise und wunderbare Oasen in denen Milch und Honig fliessen. Wir denken vor allem hier in China an Knotenpunkte des Handels, prosperierende Städte mit verwinkelten Gassen gefüllt mit Menschen verschiedener Ethnien und Religionen – ein mehr oder weniger friedliches Beisammensein in Wohlstand und Kultur.
Vorgefunden haben wir in Kashgar – ebenso wie in Hotan und Kuqe – Städte ohne Seele. Hier leben Uighuren und Chinesen in zweierlei Welten, wobei die uighurische Welt systematisch zerstört wird. Dort, wo einst Lehmhäuser ein Labyrinth bildeten stehen nun Betonklötze in Reih‘ und Glied, weiss verkachelt. Einzig die Menschen, die hier heimisch sind, sind die gleichen geblieben. Der übergestülpte „Fortschritt“, der in Eiltempo über dieses muslimische Volk hinweggefegt ist, hat scheinbar jegliche Initiative zum Fortschritt aus den eigenen Reihen im Keim erstickt. Die meisten Uighuren haben zwar ein eigenes Handy, ein „Transportmofa“ oder sogar ein Auto. Aber sie tragen immer noch die gleiche Kleidung, wie vor hunderten(!) von Jahren – wie man im Museum auf Bildern um die erste Jahrtausendwende erkennen konnte. In uighurischen Vierteln brodelt es an jeder Ecke, Markt und Handel sind so wichtig zum (Über-)Leben wie der tägliche Besuch der Moschee. Uighurische Viertel erkennt man zunächst schon am Geruch – überall wird gegrillt, gekocht, gebacken. Als nächstes realisiert man die Menschenmenge, alle in dunkel(!) grau-schwarz-braun-blau-grün gekleidet, Frauen mit Kopftuch oder sogar totalverschleiert, Männer mit der immergleichen Uighurenkappe – die für unsere Augen deckungsgleich ist mit der Usbekenkappe. Diese dunkel gekleideten Menschen sind zu einem hohen Prozentsatz dreckig, furchtbar dreckig, in speckiger Kleidung mit Trauerrändern unter den Fingernägeln. Mit der gleichen Kleidung, mit der sie Fleisch hacken, Sand in die Betonmischmaschine füllen, die Schafherde weiter treiben oder auf dem Feld die Süsskartoffeln ernten, gehen sie auch in die Moschee, ins Restaurant oder in die öffentlichen Verkehrsmittel. Ich kenne die Kindersterblichkeitsrate nicht, aber bei dem Dreck, in dem die Kleinen auf den Strassen spielen wundert es uns, dass es überhaupt Kinder gibt. Kinderkleidung scheint so gut wie nie gewaschen zu werden.
Alles in allem haben wir unsere romantisierte Sichtweise auf die Uighuren revidieren müssen. Geschichtlich kennen wir uns nicht aus; das sich uns bietende Bild ist frustrierend. Wir haben ein Volk angetroffen, das offensichtlich gerne alles beim Alten lässt, das Patriarchat und die 5 täglichen Gebete gross schreibt und in den letzten Jahren und Jahrzenten vor allem gelernt hat, sich zu beklagen. Ein Volk das gerne per Handy einen neuen Deal abschliesst, das gerne mit den modernen Transportmitteln die Waren vom Feld transportiert, aber gleichzeitig in zerfallenden Lehmhäusern ohne fliessend Wasser oder Kanalisation im Dreck weiterleben will.
Unsere Sichtweise ist, dass die Menschen in Xinjiang nicht die Möglichkeit wahrgenommen haben auf den Zug der fortschreitenden Modernisierung und Zivilisation aufzuspringen. Ihr eigenes Tempo stimmt nicht mit dem Rest der Welt überein. Sie sind abhängig – da zugehörig zu China – und das, gemischt mit der den Muslimen eigenen Sichtweise, bewirkt die latente Unzufriedenheit sowie das Gefühl der Benachteiligung.

Denken wir an das China der Neuzeit, ruft dies in vielen von uns Bilder von Hochhäusern, breiten Strassen, klinisch sauberen Restaurants mit kleinen roten Lampions und Fortschritt allgemein vor Augen.
Vorgefunden haben wir bisher aus dem Boden gestampfte Wohnblocks, die qualitativ nicht europäischen Ansprüchen gerecht werden können. Wir haben tatsächlich überdimensioniert breite und kerzengerade Strassen gesehen – und unter Einsatz unseres Lebens überquert. Fahrräder gibt es kaum noch, dafür jedoch Elektroroller in jeglicher Grösse und Couleur. Abends blinken in den chinesischen Vierteln die Leuchtreklamen um die Wette; leider fällt es uns ausgesprochen schwer, anhand der Schriftzeichen ein Restaurant von einem Geschäft für Kloschüsseln zu unterscheiden. Auch die roten Lampions können uns nicht den Weg weisen, da sie fein verteilt fast überall hängen.

In Kashgar ist die Trennung zwischen Uighuren und Han-Chinesen sehr deutlich zu spüren. Tagsüber fühlen wir uns der Türkei deutlich näher (früher hiess dieses Gebiet ja auch „Ost-Turkestan“). Erst am Abend, und besonders in den Aussenbezirken, sehen wir vermehrt die typisch chinesische Physiognomie, ebenso wie bunt-verrückte Kleidung. Vor allem die jungen Frauen haben ein Faible für kitschig-unmögliche Accessoires.

Je weiter wir in den Osten reisen, desto „chinesischer“, also „aus-dem-Boden-gestampfter“ werden die Städte. Uns stört dieses Stadtbild nicht, es ist übersichtlich und klar.
Jedoch haben wir die Städte der nördlichen (Kuqe und Turpan) sowie der südlichen (Hotan und Hami) Seidenstrasse nicht vor dem Zuzug der Han-Chinesen kennen gelernt. 1953 haben in Xinjiang ganze 300‘000 Han-Chinesen gewohnt; im Jahr 2000 sind es 7.6Mio gewesen, die heutige Zahl ist mir nicht bekannt. Damit bilden sie fast die Hälfte der Bevölkerung der grössten Provinz Chinas.

Früher, als Kashgar noch rein uighurisch war, muss die Stadt „urchig“ schön gewesen sein. Lehmhäuser, Eselskarren, Strassenverkäufer – romantisch (oder romantisiert) eben.
Heute ist noch ein minimalistischer Rest der Altstadt, ganz in der Nähe des riesigen und täglich geöffneten Sonntagsbasars zu sehen. Im Sommer zahlt man hier offensichtlich ein Eintrittsgeld, um armen Familien beim armseligen Wohnen zuschauen zu dürfen. Uns hat eine tiefe Traurigkeit ergriffen, als wir durch dieses kleine Labyrinth gegangen sind. Die Häuser, die hier stehen, stehen kurz vor dem Abriss. Wer hier wohnen muss, hat wenig Komfort. Wenn wir die Bauweise und Infrastruktur hochrechnen auf das ehemalige Kashgar, so verwundert es uns nicht, dass diese Stadt so nicht mehr existiert.
Vielleicht ist alles zu schnell gegangen, vielleicht hat die „Hau-Ruck-Methode“ der Chinesen Trotz und Widerstand hervorgerufen. Und ganz sicher ist, dass neben den zerfallenden Lehmbauten auch unzählige Kulturgüter zerstört wurden. Für Touristen ist Kashgar nur noch marginal interessant. Wir vermissen es, das einfache Leben beobachten zu dürfen.
Aber wäre ich Uighur, ich wäre froh, fliessend Wasser, Wasserklosett, Heizung und ein funktionierendes Abfallsystem zu haben.

Am Sonntag haben wir in Kashgar den vielbeschworenen Viehmarkt besucht. Ca. 8km ausserhalb der Stadt wird alles, was vier Beine hat, verkauft. Reihenweise streckten uns die Schafe ihre fetten Hinterteile entgegen und die Kühe ihre schief und krumm gewachsenen Hörner. Die Esel und Maulesel „i-a“-ten um die Wette und die Pferde – edle Tiere – wurden zugeritten. Alles, was zwei Beine (und keine Federn) hatte, schien sich hier versammelt zu haben. An ein Vorwärtskommen zwischen Tier und Mensch war kaum zu denken. Dennoch haben wir es in das und durch das Gewühl geschafft. Der Viehmarkt ist beeindruckend gross, es werden beeindruckend viele Geschäfte abgewickelt und beeindruckend viele Tiere fahren mit einem neuen Besitzer auf dessen Transport-Mofa nach Hause. Genauso beeindruckend sind aber auch Chaos, Dreck und Einfachheit im Jahr 2013. Dieser Markt hat nicht wegen der Touristen seinen – bis auf die vielen motorisierten Fahrzeuge – ursprünglichen Zustand beibehalten. Nein, der Wunsch etwas, das dann doch irgendwie funktioniert, zu ändern, liegt den Viehmarkthändlern offensichtlich fern. Schade. Das Flair, von dem Reisende aus den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts schreiben, haben wir nur bedingt nachempfinden können.

Zunächst fahren wir nun von Kashgar nach Hotan, entlang eines kurzen Stücks der südlichen Seidenstrasse. Später quer durch die Wüste Taklamakhan nach Norden (Kuqe), weiter zwischen Taklamakhan und Wüste Gobi nach Turpan und Hami.
Wir haben noch nie eine solch grosse Wüste wahrgenommen. Die Durchquerung mit dem Bus hat 8 Stunden gedauert, wir haben mindestens 6 Stunden lang nichts als Sand und wilde Kamele gesehen. Die Wüstenlandschaft ändert ihr Gesicht immer wieder; waren es vor allem „typische“ gelbe Sanddünen bei der Durchquerung, so sahen wir auf anderen Strecken verschiedene Hügel- und Felslandschaften ohne jegliches Grün. Hier könnten auch Spielfilme zur Mond- oder Marslandung gedreht werden. Als wir dann noch vorbei an Ölfeldern fuhren, mit ihren roboterartigen und auf vielen Quadratkilometern verstreuten Bohrtürmen, waren wir uns nicht mehr sicher, ob wir nicht doch auf dem Set zu „Star Wars“ gelandet sind.

Wir haben uns viele Stunden fortbewegt, in dieser grossen Provinz. In den Städten selber gab es für uns nur wenig zu tun. In Kashgar haben wir uns im neuen Land eingelebt und Basar, Viehmarkt und Nachtmarkt besucht. In Hotan haben wir eine Wollteppichmanufaktur besucht und eine Seidenfabrik – die aber nicht mithalten konnte mit der Seidenfabrik in Margilon (Usbekistan). Kuqa hat uns mit dem alten Königspalast der Qiuci überrascht, wirklich einen Besuch wert. Ebenso haben wir einen kleinen Ausflug gemacht zu den „Kizil Tausend Buddha“-Höhlen. Auch diese sind wirklich interessant und imposant. Nur ein kleiner Teil ist öffentlich zugänglich, was wir hier gesehen haben an Kunst aus dem 4.-8. Jahrhundert AD hat uns beeindruckt.
Ca. 8km westlich von Turpan liegt die alte Garnisonsstadt Jiaohe aus der Han-Dynastie (206BC – 220AD). Es ist eine der besterhaltensten antiken Städte und beherbergte zu seiner Zeit ca. 6500 Personen. Diese Ruinenstadt ist touristisch sehr gut erschlossen, mit guten Wegen und Kurzbeschreibungen sogar in Englisch. In der Abenddämmerung haben wir uns einfühlen können in das Leben in der Wüste zu einer Zeit als der Buddhismus Hauptreligion in dieser Region war und in allen vier Himmelsrichtungen sowie im Zentrum jeweils ein Tempel das Stadtbild prägte.
Leider waren alle (Nacht-)Züge von Turpan nach Dunhuang (Provinz Gansu) ausgebucht, so dass wir uns entschieden, tagsüber mit dem Bus zu fahren und einen Zwischenstopp in Hami einzulegen. Wir haben von dieser ehemalig wichtigen Stadt auf der Seidenstrasse, wo nördliche und südliche Route östlich der Taklamakhan zusammentreffen, nicht viel erwartet. Denn auch hier hat die Modernisierung zugeschlagen, die Leuchtreklamen leuchten um die Wette und die Strassen sind kerzengerade. Aber hier haben wir das für uns bisher beste Hotel Chinas zu einem vernünftigen Preis gefunden, wir haben in einem kleinen Restaurant wunderbar chinesisch (nicht uighurisch) zu Abend gegessen, und ausserdem noch, als Zugabe, das Mausoleum für 9 Generationen „Hami-Könige“ mitsamt Moschee angeschaut. Die Eintrittspreise sind gewaltig, das werden wir im Verlauf unserer Reise wohl immer wieder feststellen müssen. Aber wir sind ja hier, um etwas zu erleben und nehmen die 5 Euro pro Person für eine doch recht kleine – aber ansehnliche – Anlage in Kauf.

Nach einem ersten Kulturschock haben wir nun ein paar Dinge gelernt. Erstens: Xinjiang ist nicht China. Zweitens: dort, wo Chinesen leben gibt es Licht und Wärme. Aber auch: trotz Spuckverbot seit der Olympiade müssen wir immer noch Slalom laufen auf den Bürgersteigen und das ewig wiederkehrende unangenehme Geräusch des „Nasehochziehens“ bewirkt auch im Jahr 2013 bei Europäern immer noch einen Würgereiz. Ausserdem und zu guter Letzt: in den touristischen Hochburgen sind die WC-Anlagen passabel bis sehr gut. Auf den Autobahnraststätten hingegen häufen sich unappetitliche Haufen unter dem sich Entleerenden, der Geruch sendet die Herren der Schöpfer eher an den Zaun ausserhalb des Gebäudes und geputzt wird wohl nur alle 7 Jahre einmal. Dafür gibt es über der Rinne nur halbhohe Stellwände und keine Türen.

Und nun, nun heisst es Abschied nehmen von der grössten Provinz Chinas. Wir sitzen im Bus nach Dunhuang, und wir fahren wieder – immer noch – durch sich ständig ändernde Wüstenlandschaften bis in die Provinz Gansu.