Argentinien_Buenos Aires 2012

04./05.02.2012
Am siebten Tage sollst du ruh’n – und einen Reisebericht schreiben

Vor einer Woche um 4:30 Uhr in der Früh sind wir in Buenos Aires gelandet. Alles klappte wie am Schnürchen. Der Flug war zwar 30min verspätet, aber das Gepäck hat tatsächlich in Barcelona den Flieger über den grossen Teich erwischt, so dass wir beladen mit 2 Koffern um 5:15Uhr in ein Taxi stiegen und um 6:00Uhr pünktlich – wie verabredet – vor unserem Appartement in der Guise 1944 standen. Luciana von bytargentina – der Agentur – wartete bereits auf uns, und nach eingehender Information zu Gasheizung, Gasherd, Rolladen und Aire condicionada konnten wir müde und zufrieden auf das bequeme Bett fallen.

 

Kaum vier Stunden später zogen wir los, auf Entdeckungsreise. Die Subte (U-Bahn) spuckte uns an unserem ersten Ziel aus: Casa rosada am Plaza de Mayo . Eva Peron kommt einem in den Sinn… don’t cry for me Argentina ….
Rechts vom Plaza de Mayo liegt San Telmo. DAS Touristenviertel in Buenos Aires. Wir sind den Strassen entlang geschlendert in der unsagbaren Hitze – ca. 30°C Temperaturunterschied zur Schweiz (im Verlauf der Woche wird der Temperaturunterschied auf über 40°C ansteigen … in der Schweiz sind es -10°C und bei uns +35°C). Die Strassen sind leer, es ist ein wenig langweilig, BA schläft, es ist Wochenende und Sommerferien. Das eine oder andere Geschäft hat geöffnet und wir freuen uns über die gekühlten Getränke aus dem Supermarkt.
Nach ca. 1km landen wir in einer wirklich spannenden Markthalle. Zunächst sehen wir alten Trödel, schauen uns neugierig um, entdecken den Weihnachtsschmuck an der grazilen Metallkonstruktion unter den dreckigen Dachglasscheiben. Einige Meter tiefer in der Markthalle sind Obst- und Gemüsestände neben einer riesigen Fleischtheke an der wir – wenn wir wollten – ein halbes Angus-Rind kaufen könnten. Asado (Grill(ier)en) ist des Argentiniers Leibgericht und das Fleisch wird 2-Kiloweise angepriesen. Drunter geht nix. Mit Blick auf die halben Rinder könnten wir am Nachbarstand ein Bierchen oder einen Kaffee schlürfen. Das machen wir aber nicht, sondern blättern stattdessen in den alten, vergilbten Postkarten, schauen uns den Second-Hand-Fernseher an, an dem nur der Ton läuft, und wundern uns über die vielen Metallgerätschaften, die sicherlich nur einem Gaucho Sinn machen. Raus, aus der Markthalle und rein in das Touristengewühl am Plaza Dorrego, wo wir unsere erste Tango-Show – open air – sehen. Naja, etwas mittelmässig, aber es macht Lust auf mehr.

Nicht weit von hier befindet sich die weltbekannte gelb-blaue Bombonera, ein „must“ für jeden Fussballfan – und mit einem solchen bin ich unterwegs. Ich lasse mir von Diego Armando Maradona erzählen, seinem fantastischen Aufstieg, seinen verschiedenen persönlichen Abstiegen und dem Fussballteam Boca Juniors (und verstehe nur Bahnhof). Während Roman erzählt, unterqueren wir die Autobahn und befinden uns in einem Quartier, im dem man sogar tagsüber vorsichtig sein sollte und weder Kamera noch Portemonnaie sichtbar transportieren sollte. Das lesen wir später im Reiseführer. Bis dahin grüssen wir freundlich die Menschen von La Boca, die auf dem Bürgersteig ihren Matetee trinken, werden mit einem Lächeln zurückgegrüsst. Wir gehen durch den vertrockneten Park vor dem Fussballstadion, in dem Polizisten patroullieren und fröhliche Kinder mit den Wasserspendern spielen. Wir machen Fotos und erklären einem Jungen, dass wir aus der Schweiz kommen. Wir hören eine Gruppe Kinder auf Fässern und ähnlichen Gegenständen ein Percussion-Ständchen geben, kurze Zeit später sind sie mit ihrem Mini-Laptop im WIFI des Parks und schauen sich youtube-videos an, lassen uns mitschauen. Alles ist ruhig und friedlich, ärmlich aber beschaulich, und hoch über den Köpfen strahlt das Gelb-Blau der Bombonera.

Wenige Schritte später sind die Strassen wieder überfüllt mit Touristen. El Caminito, bunte Häuser, das Wahrzeichen von La Boca – und irgendwie auch von Buenos Aires. Ja, wir wollten es sehen, man „muss“ es gesehen haben, aber wir sind froh, als wir die Nepper Schlepper Bauernfänger und ihre Pseudo-kulturellen Veranstaltungen hinter uns lassen. Links der Strasse tönt Flamenco-Musik und „Gauchos“ tanzen mit viel Fussgestampfe in ihren Pluderhosen („boleadoras“) einen Malambo oder die Chacarera . Gegenüber auf der anderen Strassenseite, kaum 6 Meter entfernt schallt in gleicher Lautstärke Tangomusik und ein Pärchen tanzt dazu. Mittendrin drängeln sich die Touristen, es stehen Esstische im Weg und die Kellner schlängeln sich durch die Massen. Zu viel für uns!

Stattdessen fahren wir mit dem Bus, später mit der Subte zurück „nach Hause“ in unser gemütliches kleines Apartment. Zum Ausruhen bleibt nicht viel Zeit, denn wir sind ja zum Tango-tanzen hierher gekommen. Schon jetzt kennen wir den Weg zur U-Bahn – 3 Block weit – auswendig. Die unterirdische Welt empfängt uns immer mit einer Höllenhitze, der Lärm der Subte ist ohrenbetäubend und die Menschen stehen schweissüberströmt und dichtgedrängt dem Schicksal ergeben. El Subte avanza … und wir auch. Zum Glück. Nach 7 Stationen können wir aussteigen, es empfängt uns ein scheinbar kühler Wind, der nach ein paar Minuten gar nicht mehr so kühl wirkt.

La Gloriette – Der Kreisverkehr. Ein Wort, bei dem in Andalusien Romans Adrenalinspiegel regelmässig gestiegen ist. Mit dem Auto in Spanien im Kreisverkehr – ist fast die gleiche Herausforderung wie in Buenos Aires mit mir in der Tango-Glorietta. Der Blutdruck steigt – und doch ist alles halb so schlimm. In einem Park in der Abenddämmerung auf der Empore eines Pavillons Milonga tanzen. Das hat etwas sehr romantisches. Die ganze Nachbarschaft – und nur wenige Touristen – scheint versammelt. Einmetervierzig Chiquitita (Indigena) tanzt mit einmeterachtzig „Europädoido“ in vollkommener Eintracht. Tango verbindet – für 3 Tänze. Anschliessend löst man sich ohne Worte und geht eine neue schweigende Verbindung ein.
Und es ward Abend, der erste Tag.

El Bacarce ist das Cafe an der Ecke und meine Schreibwerkstatt mitten im Verkehrschaos. Frühstück ab 8, immer gefüllt mit Menschen, Medialunas y Cafe con leche, Promocion de Alfajores, Tageszeitung und die Nachrichten am Grossbildfernseher.
Die Grossstadtbilder ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Relativ ruhige, breite Strassen an den Wochenenden. Mehr (aber immer noch erträglicher) Verkehr während der Woche. Tagsüber ein paar Menschen mit vielen Hunden auf den Strassen, nachts viele Menschen mit ein paar Hunden auf der Strasse. Und immer Taxis, Taxis, Taxis. Das soziale Leben beginnt nach Sonnenuntergang – gestern Abend haben unsere Nachbarn um 1:00Uhr in der Nacht einen Grillabend begonnen – ich habe derweil schon tief und fest geschlafen.

In den letzten Tagen haben wir Buenos Aires in uns eingesogen, sind in den verschiedenen Stadtteilen spaziert, haben Menschen getroffen und in einigen der unzähligen Bars schlechten Kaffee getrunken – vielleicht sollten wir einmal auf Mate-Tee umsteigen. Viele der alten, teils verfallenen Häuser bieten Überraschungen auf dem ersten Stock. Im Treppenhaus blättert der Putz ab, die Steinstufen sind von Männer-und Frauenschuhen abgewetzt und das Geländer erinnert an einen Stummfilm. Im Ersten Stock wundern wir uns, das die Tanzlehrer Jeans tragen – und keine Ballkleider. Riesige, hohe Säle mit grossen, teils kitschigen, Bildern an den Wänden, Parkett-Tanzboden, rote Samtvorhänge, kleine Tische um die Tanzfläche mit (Pseudo-)seidenen Tischtüchern.
Mittlerweile sind wir schon an verschiedenen Schulen gewesen, haben die unterschiedlichsten Tanzlehrer und die unterschiedlichsten Räumlichkeiten kennen gelernt.

Wochenprogramm 1. Woche:
Palermo Soho: Salon Canning, ist vielleicht eine der besten Adressen für Tango – ein grosser Saal, grosse Spiegel, alter Holzfussboden, kleine Tische … im Grunde sehen die Säle gleich und doch verschieden aus. Dort haben wir Montag um 19:00Uhr 2 Stunden Unterricht genommen, anschliessend wäre Milonga gewesen, aber wir hatten Hunger und die Beine waren das Tanzen noch nicht recht gewohnt.

Abasto: Dienstag 14:00Uhr Class im Nuevo Chique mit Olando und Paula. Wir kennen sie zwar nicht, werden aber von einem sehr sympathischen (Tanz-)Paar empfangen, er ist ca. 15 Jahre älter als sie. Wir lernen viel in entspannter Atmosphäre. Abends treffen wir unsere Tanzlehrer aus Sardinien im Salon Canning (Stadtteil Palermo Soho) zu einer Veranstaltung im Gedenken an den 2010 verstorbenen Tanguero Tete Rusconi. Analia hat mit ihm getanzt – und erzählt begeistert von einem lieben Menschen. Die Milonga beginnt um 23:00Uhr, um 24:00Uhr füllt sich der Saal, um 2:00Uhr wollen wir gehen, aber die Diashow und Tanzvorführungen beginnen erst. Alt trifft jung, Tanzstile treffen aufeinander, es ist ein Raum voller Leben.

Abasto: Canelo Tango Estudio. Dort ist Roman so richtig zum Tanzen gekommen: 7 Frauen und 2 Männer nahmen am Unterricht teil. Wir lernten „basic stuff“, also Anfängerschritte, was immer wieder sehr gut und wichtig ist. Wie Hühner auf der Leiter standen wir Frauen (zwischen 45 und 75 Jahren) dort, während wir nacheinander aufgefordert wurden… dieser Unterricht hat Spass gemacht, aber noch besser war Freitag, in Montserrat. Dort hatten wir unsere erste Tanzstunde mit Analia und Marcello, den Lehrern aus Sardinien. Erneut: zurück zum Start – obwohl wir die „Medaille-der-nicht-mehr-Anfänger“ verliehen bekamen. Körperhaltung, Entspannung und Spannkraft, Schrittgrösse, Trittsicherheit, …. Wir haben alles „neu lernen“ müssen. Zunächst kam das Gefühl der Unfähigkeit auf; nachdem Marcello mich – und Analia Roman – eine Stunde „weichgeknetet“ hat (gehen, gehen, gehen, locker, kräftiger Schritt, gehen, gehen, gehen, entspannen …..), hatten wir ein völlig neues Tanzgefühl. Wir werden wohl zwei weitere Unterrichtsstunden nehmen, auch wenn der Preis fast identisch ist mit dem in der Schweiz. Dafür haben wir in der Wartezeit vorher (nein, wir waren nicht zu früh, haben uns nur noch nicht an Argentinien gewöhnt; die Unterrichtsstunde fing 30min verspätet an …. ganz normal) das alte Gebäude mit den vielen kleinen Unterrichtsräumen erkunden dürfen. Ehemals in italienischem Besitz ist der Eigentümer vor einem Monat verstorben und nun wird es (hoffentlich) restauriert. Das Flair in den einzelnen Zimmern, verwinkelten Fluren im Treppenhaus, dem WC, der Küche … überall spürt man die Essenz alter Tango-Grössen.

Abends schauten wir im Centro Cultural Borges (mitten in der Einkaufspassage „Galerias Pacifico“) – auf Empfehlung von anderen Argentinien-Reisenden sowie auch der Tanzlehrer – eine Tango-Show. Live-Musik und balletartiger Tanz, die Füsse waren überall und nirgends, die Körper schweissgebadet, ein Kleid schöner als das andere und die Lautstärke der schlechten Verstärkeranlage dröhnte in den Ohren. Sicherlich „sollte man“ dies einmal gesehen haben, aber einmal reicht auch vollkommen aus.

Orlanda und Paula hatten am Ende der Woche immer noch die besten Eindrücke hinterlassen (neben der Privatlektion), und da sie am Samstag in Montserrat – gerade an der Grenze zu Constitucion – erneut Unterricht erteilten, sind wir dort um 15:00Uhr wieder aufgetaucht. Dieser Saal in einem eher unscheinbaren Gebäude war bisher der Einducksvollste. Grösser, höher, älter, ehemals prunkvoller schien vorher keiner gewesen zu sein, auch nicht Salon Canning.

Wir wurden begrüsst auf die Argentinische Art, mit Küsschen auf die rechte Wange, schön feucht, als wären wir lang verschollene Freunde. Auch kannten wir schon einige andere Schüler, wir fühlten uns „fast zu Hause“. Wir haben uns entschieden, während der kommenden 2 Wochen jeweils 3x/Woche Unterricht bei diesem Tanzpaar zu nehmen – für uns die beste Wahl. Unterricht, „clas“, bedeutet im Übrigen, dass man einfach erscheinen kann, alleine oder zu zweit. Mal sind 6 Tanzwillige dabei, mal auch 26. Alles wird dem Zufall überlassen, nur nicht der Preis, der beträgt ganze 30 Pesos pro person und Doppellektion inklusive Milonga im Anschluss. D.h. 6 Sfr pro Person, absolut zahlbar.

Wo welche Lektionen bei welchen Lehrern stattfinden, erfährt man in einer der vielen Tangozeitschriften. Alles gut organisiert, wenn man erst einmal herausgefunden hat, wo man die Informationen herbekommt 😉

Monsun in Buenos Aires
Mittwoch war ein tanzfreier Tag – ganz ungeplant. Eigentlich wollten wir über Tag etwas „Kultur“ über uns ergehen lassen, am Abend dann zum Gruppenunterricht und der Milonga von Analia und Marcello gehen, im Quartier Villa Crespo. Nach einem guten Frühstück im El Bacarce zogen wir los, zum Friedhof in Recoletta. Ein edleres Quartier, angrenzend an das Barrio norte.

„Es kostet weniger, dein ganzes Leben extravagant zu verbringen, als in Recoletta begraben zu werden“. Eine Stadt der Toten empfängt uns in grösster Hitze. Hinter dem Eingangstor mehrere Gassen, nach rechts, nach links und geradeaus, wie kleinste Einfamilienhäuser ist eine Grabstätte an die andere gereiht, die Ornamente übertrumpfen sich gegenseitig, die schwulstigen Sprüche ebenfalls. Geradeaus, dann links, beim Mausoleum rechts und nach 3 Blocks links in eine Seitenstrasse, und wir stehen vor dem unscheinbaren (?; im Vergleich) Grab von Eva Perron. Wie immer liegen Blumen vor der … Türe … Uns beeindrucken die Statuen, die Engel, die alten Bäume und das stadtgleiche Bild. Aber irgendwie ist es auch nur ein Friedhof, und so ziehen wir weiter. Es ist schwül-heiss, wir wollen wieder nach Hause. Diesmal mit dem Bus. Das System des öffentlichen Verkehrs ist – abgesehen von der Subte – für uns nur schwer durchschaubar. Wir fragen uns durch zur Haltestelle der 92. Dann wissen wir aber nicht, ob es der richtige Bus ist. Betty, die kleine ältere Dame, beobachtet uns schon eine ganze Weile. Als sie das Wort „Billinghurst“ (ein Strassenname in der Nähe unseres Appartements) hört, hüpft sie wie ein Gummiball auf und ab. „Yes, this is the right bus, come with me, I show you the way.“ Sie spricht sehr gutes Englisch, erstaunlich für eine Dame ihres Alters. Während ich auf der Busfahrt ausgefragt werde nach Herkunft und Familie, nach Wetter in der Schweiz und Tango tanzen, sitzt Roman zwei Bänke weiter hinten und hält die Szene per Foto fest. Betty strahlt über das ganze Gesicht, sagt, dass ihre Söhne noch viel besser englisch sprechen, und wir doch einmal anrufen sollen, gibt uns ihre Telefonnummer und Hausadresse. Dann begleitet sie uns noch hin- und herwackelnd auf kurzen Beinen bis knapp vor die Haustüre. Betty wird demnächst von uns einen kleinen Blumenstrauss bekommen, einfach so, weil sie so herzlich ist, und wenn sie erfährt, dass wir morgen (Montag) umziehen in die Billinghurst, dann wird sie erneut wie ein Gummiball vor sich hin hüpfen.
Nach der Strapaze des Tages (es ist vielmehr die Hitze als alles andere, die uns fertig macht), halten wir wie jeden Tag ein Mittagsschläfchen.

Die Sintflut weckt uns. Es schüttet auf unseren kleinen Balkon, wirklich (!), wie aus Eimern. Unerschrocken machen wir uns ausgehfein und mit Regenschirm bewaffnet auf den Weg zum Eckcafe, dort, wo die Taxis immer vorbeifahren. Nach zwei Schritten unter dem Schirm mit knirpshafter Spannbreite sind mein linker und Romans rechter Arm durchnässt, von Schuhen, Socken und Hosen ganz zu schweigen. Das Wasser steht nicht, es fliesst in Strömen die Strassen entlang, alles mit sich reissend, von Plastiktüten über Pappkartons zu Hundehaufen. Mutig stehen wir an der Ecke, 10minuten lang, alle Taxis sind besetzt. Wir ziehen weiter, an die nächstgrössere Strasse, versuchen wieder, ein Taxi zu erwischen. Jedoch die „libre“-Zeichen sind erloschen, kein Taxi für uns in dieser Stadt. Dabei möchten wir soooo gerne auf die Milonga von Analia und Marcello – die Class haben wir mittlerweile schon verpasst. Irgendwann entscheiden wir uns, in trockene Kleider zu wechseln und ein Taxiunternehmen anzurufen, damit wir vor der Haustüre abgeholt werden. Die Nummer liegt zurecht im Appartement, wir wählen sie, vielleicht tausend Mal. Immer besetzt. Als ich endlich durchkomme, begrüsse ich zuerst mit „Buenas noches“, anschliessend frage ich dummerweise, ob die Dame auch englisch spricht. Ein kurzes „no“, dann wird am anderen Ende der Leitung der Hörer aufgelegt. Hmm, so schnell lasse ich mich nicht abspeisen, krame meine letzten Spanisch-Kenntnisse hervor und rufe erneut an. Nach erstaunlichen 10x komme ich wieder durch und sage „Buenas noches, quiero un taxi a Guise y Charcas“ (unsere Adresse). „HAY NO TAXI EN LA CIUDAD!“ und schon wieder wird der Hörer aufgelegt. Kein Taxi in der ganzen Stadt, ja, so kam es uns vor, jedenfalls keines, das uns hätte mitnehmen können. Für die Argentinier ist es gar nicht tragisch, die (Tages-)Pläne kurzfristig zu ändern, so ist das Leben halt, das überträgt sich auch auf den Tango, wo immer wieder die Richtung, der Platz, die Figur geändert werden muss, je nachdem, wer neben dir, vor dir oder mit dir tanzt. Wir stürzen uns erneut, und besser gewappnet, wagemutig in die Fluten, bis zum Eckcafe, diesmal das auf unserer Strassenseite, wo wir mitten unter gutgelaunten Portenos (Einwohner von Buenos Aires) ein Bife de chorizo essen und von Carlo belabert werden. Carlo erzählt uns vom Leben, von seinem letzten Gast aus Polen, vom Tango und von Iguazu. Er sei jeden Tag hier, ob wir noch länger in BA seien und wieder hierher kämen ….. seither machen wir einen grossen Bogen um diese Bar.

Zum Ende der ersten Woche
Zum Ende der ersten Woche lässt sich sagen: Buenos Aires ist definitiv einen Besuch wert! Eine vielseitige Stadt mit teils schönen und teils sehr schönen Quartieren, mit La Boca und La Constitucion als angeblich gefährliches Pflaster, mit Parks und Hochausschluchten. Und – nicht zu vergessen – mit dem Hafen Puerto Madero, der Puente de la Mujer (eine stilisierte Brücke, wie eine Haifischflosse, die ein tanzendes Tangopaar darstellen soll?!) und dem Naturpark Costanera Sur. Ein Naherholungsgebiet angrenzend an die Grossstadt. 200m über Schotterwege in den Urwald hinein vergisst man, dass nur wenige hundert Meter entfernt „der Bär tobt“.
Wir freuen uns über die kommenden 2 Wochen und hoffen, noch weitere Facetten dieser Stadt zu entdecken und zu erleben.

19.02.2012
Der Tiger von Buenos Aires

„Der Tiger von Buenos Aires war ein Jaguar“ erklärt uns die 21-jährige Lucila von der 3-Personen-Firma ‚Tigre Safari Delta‘. Die Spanier, die im 16. Jahrhundert Puerto de Nuestra Señora Santa María del Buen Ayre gründeten, sahen auf ihren Jagdausflügen diese grosse Feline die sie für einen Tiger hielten, und benannten so das 21‘000 Quadratkilometer grosse Delta von Rio Parana und Rio Uruguay. Hier fliessen diese beiden Flüsse, von denen der eine die Grenze zum Nachbarland Uruguay darstellt, in den weiten Rio de la Plata, der wie eine Meerbusen anmutet mit Strand und Gezeiten und dennoch voller braunen Süsswassers ist. Rechts von uns, im Dunst der Grossstadt, sehen wir die Hochhäuser von Puerto Madero, das Banken-, Business- und Hotelviertel von Buenos Aires, direkt am Naturpark Costanera Sur.

Das kleine motorbetriebene Schlauchboot fährt sicher durch einige wenige der ca. 5000 weiten und schmalen Kanäle, unzählige Kilometer Wasserstrassen, die zumindest in der Nähe der Kleinstadt Tigre, 35km ausserhalb des heutigen Buenos Aires, stark bevölkert sind. „Dies ist die Grundschule“ erklärt Luci und zeigt auf ein grösseres Gebäude mit einer Madonna am Ufer. „Die Kinder werden mit dem Schulboot zu Hause abgeholt, manchmal nehmen sie auch einfach ein Kajak und kommen selbständig – wie die Kinder in der Stadt mit dem Fahrrad zur Schule fahren.“ Ausserdem gibt es – wie in jeder Stadt – Müllboote, Tankstellen, das Lebensmittelschiff sowie diverse Familienboote. Die Jugendlichen kaufen kein Moped sondern ein Jetboot und die Hauseinfahrt ist ein hölzerner Steg mit Anlegestelle und Badebereich. Trotz der vielen motorbetriebenen Fahrzeuge ist das Leben im Delta ruhig und besinnlich. Wir tuckern vorbei an Bars und Restaurants, an bescheidenen Einfamilienhäusern und luxuriösen Wochenendresidenzen, hinein in den nur von Wasserwegen durchdrungenen Dschungel, der bei Weitem den grössten Teil dieses wunderbaren Deltas einnimmt.

Nur wenige Kilometer entfernt in der pulsierenden Metropole ‚Ciudad Autonoma de Buenos Aires‘ leben über 13 Mio Menschen auf offiziellen 203 Quadratkilometern dichtgedrängt in ihren 30-50m2 kleinen Apartamentos oder Monoambientes (Einzimmerwohnungen). Ein mal einskommafünf Meter Balkon mit Blick aus dem 5. Stock auf die Dächer der unzähligen gelbschwarzen Taxis ist purer Luxus. Überhaupt: Strassen- und anderer Lärm stört die Einwohner dieses Grossstadtdschungels gar nicht. Es scheint, sie lieben ihn. Ob zum Frühstück mit Cafe con leche und drei Medialunas in einer der unendlich vielen Bars an der Strassenecke zweier stark befahrener Strassen, ob zu den Stosszeiten in der überfüllten U-Bahn mit Rundum-Körperkontakt – die Geräuschkulisse lässt den „gemeinen Argentinier“ kalt, seine Mine ist melancholisch, ruhig, der Blick in sich gekehrt. Auch für jene, die ihn nie getanzt haben scheint der Tango eine Lebenseinstellung zu sein. Berührungen müssen sein, ob in der U-Bahn oder beim Tanzen, gelächelt wird allenfalls kurz, die Untiefen der Seele tauchen auf, bis an die Oberfläche, aber durchdringen sie nicht, die Augen scheinen sich stets mit Wasser zu füllen ohne zu weinen, eine gelebte Tristesse, und zugleich eine verkleidete Freude über das irdische Dasein.
Möglicherweise ist diese Melancholie eine verständliche Reaktion auf die argentinische krisengeschüttelte Situation. Ein Mann um die 50 hat die Trauer seiner Eltern über den Tod von Evita in die Wiege gelegt bekommen, seinen besten Freund unter der Militärdiktatur aus den Augen verloren und nie mehr etwas von ihm gehört. Er hat als junger Mann in einem kurzen Krieg um die Falklands – sorry: Islas Malvinas – gekämpft, seine gesamten ersten selbstverdienten Ersparnisse in der grossen Schuldenkrise verloren und durfte von seinen späteren Ersparnissen nur 1000Pesos aufs Mal abheben. Das Land leidet weiterhin unter einer enormen Inflation und die Menschen hier leben HEUTE. Denn morgen kann alles schon wieder ganz anders sein.

Vielleicht aber ist es auch das zurzeit sehr hochsommerliche Klima, das auf Körper und Geist lastet, die Ausschnitte tiefer werden lässt und dennoch den Testosteronspiegel nicht hebt. Die Argentinierin trägt ihre strand- oder solariumgebräunte Haut in unaufdringlich normaler Kleidung aus einem der vielen kleinen Läden zur Schau. Die T-Shirts zeigen wogende Busen und Bäuche jeglichen Umfangs und jeglichen Alters, die Füsse von Oma oder Enkelin stecken in Flip-Flops. Einen „Salon de Belezza“ findet man in jedem Quartier, die Lippen werden in Schönheitskliniken aufgespritzt, die Nägel sind lackiert, die Haare gefärbt und jugendlich geschnitten. Und doch ist – abgesehen von diesem Jugendwahn – die Argentinierin eine Europäerin, die stolz auf ihren Körper ist ohne allzugrossen Sexappeal auszustrahlen. Der Argentinier, wiederum, ist ein Charmeur, ein freundlicher und ebenso unaufdringlicher Mann, der um seine Männlichkeit weiss, ohne sie beweisen zu müssen. Obwohl: untätig scheint er nicht zu sein, der Argentinier. Denn die Anzahl Schwangerschaftsbäuche und Kinderwagen, die uns auf den von Kolonialbauten und hohen Bäumen gesäumten Strassen der gesamten Stadt begegnen, ist ebenfalls fast schon inflationär.

Vor einer Reise in dieses Land, bestehend aus Grossstadt und Gaucho-Kultur, empfehle ich, wenigstens die 5-minütige Anfangssequenz des Argentinischen Films „Medianeras“ von Gustavo Taretto zu sehen. Bild und Text sind Buenos Aires pur. Genauer kann man diese Stadt mit all ihren Widersprüchen kaum wiedergeben. Medianeras sind die fensterlosen Seitenwände der freistehenden Hochhäuser, von denen die Stadt durchdrungen ist. Diese ca. 5-15 Stockwerke hohen Gebäude wurden wahllos und wunderlich passend in das koloniale und mit grossen Palästen geschmückte Strassenbild eingefügt. So erstaunt es nicht, verwinkelte Erker und Dachkonstruktionen im Spiegel eines Glaspalastes zu entdecken, über dem Engel der Recoletta-Friedhofsmauer das Zahnpastalächeln einer Unterwäschewerbung auf der ansonsten kahlen Hochhauswand zu sehen.

„Provoziert niemanden! Zeigt Eure Kamera, euer Laptop, euren scheinbaren Reichtum nicht! 35% der Menschen in Buenos Aires haben nicht genug zum Leben und Diebstahl ist gang und gäbe!“ Didier Deboos, pensionierter Journalist der Zeitung „Le Monde“, ist nicht der erste Mensch, der uns in dieser Stadt warnt. Innerhalb der letzten zweieinhalb Wochen sind wir mindestens zehn Mal ungefragt auf Diebstahl und Sicherheit angesprochen worden. Im Cafe heisst es, ich solle die Handtasche an die andere Seite des Stuhls hängen, dort, wo die Menschen nicht durchgehen, beim Fotografieren im gutsituierten Stadtteil Palermo warnt man uns eindringlich, in der U-Bahn klammere ich schon automatisch, nach mehreren Ermahnungen, meine Handtasche fest zwischen Bauch und Arm und als ich meinen Ring am Waschbecken der ‚Baños‘ eines Tangolokals vergesse, bin ich ganz erstaunt, ihn nach 45min dennoch zurück zu erhalten. Trotz all der Warnungen und anscheinend extremen Ängste der Grossstädter, die ihre Apartamentos mit doppelten Schlössern jeweils mehrfach verschliessen, fühlen wir uns in Buenos Aires so sicher wie in jeder europäischen Metropole. Natürlich gibt es Kriminalität hier, wie überall. Aber unserer Meinung und Erfahrung nach nicht in dem Ausmass, in dem davor gewarnt wird.

Der Journalist in ihm bewirkt, dass Didier nicht erzählen kann ohne Notizen zu machen. Er ist pensioniert, hat alle Zeit der Welt und setzt sich nach einer kurzen Aufforderung an unseren Bistrotisch, um uns knapp eineinhalb Stunden über Argentiniens Geschichte, Politik, Einwohner und Natur einen Vortrag zu halten und gleichzeitig mein Reiseheft mit 4 Seiten unlesbaren und unzusammenhängenden Worten zu füllen. Zeit ist ein dehnbarer Begriff, in dieser Hinsicht sind die
Argentinier den Indern näher als den Europäern. Marcella (seine Frau) wartet zu Hause auf die frisch getätigten Einkäufe fürs Mittagessen, während Didier über 2 Jahrhunderte Argentinien berichtet wie über eine Liebschaft. Höhen und Tiefen, Engländer, Spanier, Franzosen und Italiener, General Bolivar und General San Martin, die vielen Autos und die Krisen – all das findet Platz in seinen Ausführungen. Ebenso beschreibt er die globale „Chinotherapie“, was für ihn heisst, dass die Chinesen die „Supermercados“ seit 2001 – nach der Krise und einem finanziell vorteilhaften Vertrag mit China – zunächst in Buenos Aires und später im ganzen Land fest im Griff haben und auf der ganzen Welt mehr als 100 Mio Chinesen ausserhalb von China leben. Der Einfluss des Lands der Mitte auf jeden von uns ist nicht nur seiner Meinung nach enorm. Bevor wir ganz nach argentinischer Art zum Abschied ein Küsschen auf die rechte Wange bekommen, werden wir noch auf seine Hacienda in Caa Cati im Bundesland Corrientes, ca. 1000 km von hier entfernt, eingeladen. Buenos Aires sei schön, die Landschaft Argentiniens sei jedoch fantastisch. Dafür müssen wir unbedingt wieder kommen und ihn besuchen.

Während der zufriedene und redselige Journalist in schnellem Slalom über die losen Gehsteigplatten und die allgegenwärtigen Hundehaufen nach Hause und dem verspäteten Mittagessen entgegen geht, bleiben wir erschöpft von all den Informationen einen Moment schweigend sitzen. Sollen wir morgen – wie Didier uns geraten hat – bei Oviedo essen, dem einzigen Restaurant in diesem Quartier, das einen französischen Gaumen zufrieden stellt? Wir überlegen es uns, denn von ‚Parilla‘ (sprich: Pariisha; Grilladen) haben wir im Moment die Nase voll. Wegen des Essens muss man nicht nach Argentinien fliegen – es sei denn, man möchte wochen- und monatelang nur Fleisch mit Fleisch und Pommes frites essen, zwischendurch ein wenig Weissbrot, etwas schlaffen Salat und eine mit Käse überlaufende Pizza. Empanadas (krosse, gefüllte Teigtaschen) sind zwar empfehlenswert, aber auch davon alleine kann man nicht leben. Und wenn man – wie wir – der Landessprache nicht ausreichend mächtig ist und am Ufer des Rio Lujan im gleichnamigen Städtchen ca. 70km entfernt der Hauptstadt und mit Blick auf die spanisch anmutende Basilika sitzt und ‚Chinchulines‘ bestellt, vergeht vermutlich auch dem hartgesottensten Fleischesser für ein paar Tage die Lust auf Parilla. ‚Chinchulines‘ ist gegrillter (Dünn-)Darm. Da kann uns auch eine mediokre argentinische pseudo-italienische Eiskreme nicht wieder aufmuntern.

Nach Lujan sind wir gefahren, um den Lärm der Stadt hinter uns zu lassen – und haben diesen getauscht gegen das Gewusel in und um die ‚Basilica de nuestra Señora de Lujan‘ aus dem 17. Jahrhundert, die 1930 im heute sichtbaren Glanz und mit zwei Kirchturmuhren (argentinische Zeit und spanische Zeit) erstrahlte. Obwohl Jesus deutlichen Unmut zeigte ob des Markttreibens in seinen heiligen Hallen, wird in Lujan der Kirchplatz von Souvenirständen dominiert. Den göttlichen Segen für Leib, Seele oder ein kitschiges Souvenir kann man im Minutentakt von zwei fliessbandartig arbeitenden Mönchen erhalten und weiteres Seelenheil erhält der oder die Argentinier/in, wenn sie in der langen Schlange vor einem der 5 Beichtstühlen steht und nach ca. 50min endlich einem der ‚Fliessbandmönche‘ die vermeintlich sehr, vermutlich jedoch eher weniger katastrophalen Sünden beichtet. Wenn dies für das eigene Wohlbefinden nicht ausreicht, oder der katholische Argentinier neben Gottes Hilfe noch weiteren Beistand anfordern möchte, so geht er in eine der vielen ‚Santerias‘ vor Ort. Dort kauft er Kerzen um Gaucho Gil zu huldigen, Kerzen als Opfer für San Martin oder ein Gel, das – auf den Körper gerieben – den Schutzmantel Marias um dich legt. Im gleichen Regal findet sich „Lubrication Gel“ mit Engeln oder Heiligen, vermutlich um den Kindersegen zu fördern.

Zurück in Buenos Aires hat der Tango uns wieder voll im Griff. „Zu Beginn wurde Tango-Unterricht nur für Männer erteilt. Auch ich habe noch vor mehr als 30 Jahren sowohl Männer- als auch Frauenschritte gelernt. Erst als wir den Tanz sicher beherrschten, haben wir die Frauen aufgefordert“ erzählt uns der 56-jährige Orlando Scarpelli, der mit seiner jungen Partnerin Paula einen wunderbar sympathischen Unterricht voller adäquatem Ernst erteilt. Nicht nur wir, sondern auch andere Tangobegeisterte folgen ihrer ‚Clas‘ von Lokal zu Lokal quer durch Buenos Aires. Viele der alten, teils verfallenen Häuser bieten Überraschungen auf dem ersten Stock. Im Treppenhaus blättert der Putz ab, die Steinstufen sind von Männer-und Frauenschuhen abgewetzt und das Geländer erinnert an einen Stummfilm. Auch Orlando weckt in uns das Gefühl eines anderen Zeitalters. Der Anzug, die Schuhe, der Melancholische Blick, all das könnte einer Kinoproduktion des letzten Jahrhunderts entspringen. Besonders dann, wenn wir uns in den hohen staubigen Sälen mit den rotsamtenen Vorhängen und den kleinen Tischchen um das zertanzte Parkett wiederfinden.

Der Tiger von Buenos Aires ist kein Tiger und auch kein Jaguar. Der eigentliche Tiger von Buenos Aires ist der Tanguero. Er verhält sich ruhig, blickt in die Runde, findet sein weibliches Pendant, fixiert sein Ziel und geht auf sie zu. Die Tanguera weicht entweder nicht vom Fleck oder aber kommt ihm entgegen. Und dann schleichen sie gemeinsam mit samtenem Schritt und melancholischem Blick über die Bretter.