11.06.-20.06.2023
Hauptinsel Honshu: Saidaiji (bei Okayama) – Himeji – Amagasaki (bei Osaka) – Kyoto – Hikone – Nagoya – Toyohashi – Kikugawa
Die Luft ist regenschwanger, die Berge verhangen, Nebeltropfen mischen sich auf unserer Haut mit Schweiss, es ist schwül und schon wieder geht es steil bergauf. Seit gestern hat offiziell die Regenzeit begonnen, mit 95%iger Sicherheit wird es regnen – aber uns erwischt es erstaunlicherweise nicht. Unser Weg führt uns auf Honshu eigentlich immer durch bewohntes Gebiet. In seltenen Ausnahmen drehen wir ein paar – meist steile – Kurven durch die Hügel und geniessen das üppige Grün, geniessen die Bambuswälder und die plätschernden Bäche, geniessen auch die landwirtschaftlichen Flächen mit Reisfeldern, Trauben, Obstwiesen, die anders als in Korea (soweit wir das gesehen haben) auch in höheren Lagen zu finden sind.
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Es ist erstaunlich; wir fahren durch Kleinstädte, grössere Städte, Agglomerationen und Industriegebiete. Wir fahren entlang der Trasse des Shinkansen (Hochgeschwindigkeitszug), entlang der anderen Schienenstrecken und vorbei an Fabriken. Und dennoch werden wir meist geschickt über kleinere Wege, Seitenstrassen, Wohnquartiere gelotst. Dort, wo es unumgänglich ist die Hauptstrasse zu benutzen befindet sich in mehr als 95% der Fälle ein Fahrradweg am Strassenrand. Teils fahren wir mehrere Kilometer immer der gleichen leicht gewundenen Wohnstrasse entlang, sehr ruhig, schmal und friedlich und immer parallel der vier- bis sechsspurigen Durchgangsstrasse.
Hier in den Quartieren – und je ländlicher desto mehr – ist alles klein, alles winzig, alles «miniature». Manches Mal sehen wir Schilder mit der Angabe der Strassenbreite, oft 1.9m, aber auch schon mal 1.4m – in beide Richtungen befahrbar! Kein Wunder ist es hier ruhig, man kommt langsam voran, muss immer mit Gegenverkehr rechnen und ggf. ausweichen können. Kein Wunder haben die Japaner in den meisten Fällen und vor allem auf dem Land kleine Fahrzeuge. Das fängt an bei den PKWs, die nicht nur knapp halb so viel Platz in der Parklücke einnehmen wie ein SUV, sondern auch noch kleinere Reifen haben. Weiter geht’s bei den Transportern und «Mini-LKWs», die in Format und Grösse die PKWS kaum übertrumpfen. Zwischen den kleinen Einfamilienhäusern – zwei-etagig, hölzern mit verziertem Dach und mit einer Grundfläche von ca. 5mx6m – fahren wir immer wieder einmal unverhofft an einem sehr kleinen Reisfeld vorbei auf dem gerade ein Traktor in der Grösse eines amerikanischen Rasenmähers die Reissetzlinge im sumpfigen Nass platziert. Es ist wunderbar, so durch die Gegend zu radeln, wir können uns nicht satt sehen an den Häusern, den Vorgärten mit ihren hübsch geschnittenen Bäumen und Sträuchern, den Blumentöpfen vor fast jedem Hauseingang, üppig mit Blüten und Blättern, aber auch mit Früchten und Gemüse bepflanzt.
In den Lücken zwischen den Häusern sind nicht nur Reisfelder zu finden. Alle paar hundert Meter finden sich zu beiden Seiten Tempel, Schreine oder beschriftete Steine, Figuren mit roten Strickmützen und roten Stoff-Lätzen. Wir sehen unzählbare Shinto-Schreine und Buddhistische Tempel mitten in Ortschaften oder hoch über Treppen im Hügel erreichbar. Zwar sind diese Anbetungsstätten einerseits dem einen oder anderen zuordenbar, aber sie können in trauter Zweisamkeit nur durch ein kleines Mäuerchen voneinander getrennt harmonisch nebeneinander existieren. Japaner, so haben wir gelesen, fühlen sich selten der einen oder anderen Religion bzw. Philosophie verpflichtet. Ein Wanderer, der mein Rad von hinten angeschoben hat, den steilen Trampelpfad hinauf, meinte auf unsere Aussage, dass wir manchmal die kleinen Schreine und Figuren nicht zuordnen können: «It does not matter, it’s mixed.» – Es ist egal, beide Religionen sind vermischt. – Und als wir auf einen kleinen Tempel am Wegrand deuten meint er: «Oh, this ist not Shinto or Buddhism, this is a lokal God.» (Dies ist weder das eine noch das andere, dies ist ein lokaler Gott.)
Neben diesen schönen kleinen oder grösseren Tempeln und Schreinen gibt es – leider, muss man sagen – auch noch andere «Tempel», in denen sich viele Menschen viele Stunden eines Tages grösstem Lärm, Gedudel, Gepiepse und Gebrumme aussetzen, dazu noch neonfarbigen Lichtern und dem Klirren und Klimpern von Kugeln und Münzen. An jeder grösseren Ein- oder Ausfahrtstrasse finden sich riesige Gebäude, die wir zunächst als Einkaufszentren identifiziert hatten. Und so wollten wir etwas einkaufen – und fanden uns in einer Spielhölle wieder. Reihe um Reihe um Reihe stehen Spielautomaten mit Mangafiguren, bunt und schrill, davor rote Hocker auf denen erstaunlich mittelalte bis alte Menschen sitzen, verbissen auf die Maschinen starren und ihre Finger auf Bildschirmen und Knöpfen bewegen um scheinbar mit Glück und Geschick ihr Geld zu mehren – es vermutlich aber einfach meist den Besitzern dieser «Pachinko» genannten Paläste überlassen.
Mit dem Wissen, dass die Regenzeit begonnen hat, haben wir uns entschieden, keine Rücksicht mehr aufs Wetter zu nehmen. Wir planen und radeln drauflos – und meist scheint die Sonne! Jeden Tag erleben wir Neues, sehen wir Unerwartetes und treffen auf neugierige, interessante Menschen. So bringt uns der Weg nach Bizen, wo wir am Rand einer dieser langen Strassen reihenweise Läden mit unglasierter Töpferware sehen und von der Besitzerin eines dieser Läden stolz ihren schönen Stein- und Moosgarten gezeigt bekommen. Wir kommen in eine dieser grösseren Städte, von denen man im Westen noch nie etwas gehört hat, und treffen auf eine grosse Gruppe radfahrender Hong Kong-Chinesen, alle schon pensioniert, alle mit einem Klapprad unterwegs und alle im gleichen wunderhübsch-hässlichen Outfit. Sie rufen uns und winken und halten uns an um unbedingt und jetzt sofort ein Foto mit uns zu machen. Wir haben diese ellenlange, heisse und steigungsreichen Etappe und treffen oben auf dem Pass in einem Café 2 ältere Japaner die uns zu sich winken, wir sollen uns neben sie setzen und wir plaudern – in ausnehmend guten Englisch – eine halbe Stunde lang, bis wir weiterziehen müssen. Auf dem Weg nach Kyoto, einem Highlight, treffen wir 2 schwedische Langzeitreisende, die einen Reifen flicken müssen – kaum 20 km später flicken wir einen unserer Reifen und erhalten ungefragte Unterstützung von – vermutlich – einem Fahrradmechaniker, jedoch in weisser (!) Hose. Er spricht kein Wort Englisch, hockt vor uns hin und übernimmt die Reparatur! Funktioniert gut, aber der Schlauch ist echt Mist, und so flicken wir kurze Zeit später das zweite Mal.
Jetzt haben wir uns Kyoto – und 2 Ruhetage – wirklich verdient! Wobei «Ruhetage» sehr relativ ist. Auch an diesen beiden Tagen fahren wir je 15km und können so die verschiedenen wichtigen und unwichtigeren Sehenswürdigkeit der Stadt gut erreichen. Wir sehen die beiden Paläste, wir sehen mehrere Buddhistische Tempel und mehrere Shinto-Schreine. Hier in der Stadt sind die Tempel mächtig und gross, mit riesigen Schotterplätzen vor den Gebäuden und kilometerlangen Grundstücksmauern. Eindrücklich ist jedes einzelne Gebäude, eindrücklich ist die Gesamtzahl an Sehenswürdigkeiten in Kyoto. Eindrücklich ist aber auch, dass diese Grosstadt mit ihren knapp 1.5Mio Einwohnern eher dörflich wirkt und eine sehr angenehme Atmosphäre ausstrahlt Die Strassen mit ihren 2-stöckigen Gebäuden sind lang – aber ruhig. Es scheint, als ob jeder hier Rad fährt – deswegen erstaunt es uns, dass es so schwierig ist, sein Rad abzustellen. Einfach irgendwo an einen Zaun – nein, das geht nicht. Es gibt spezielle Rad-Parkplätze, die aber nicht immer einfach zu finden sind. Auch am Bahnhof – eine «moderne» Sehenswürdigkeit der Stadt müssen wir 2 Strassen weiter fahren um die Räder zu parken. Das Bahnhofsgebäude ist absolut überdimensioniert, mit insgesamt 15 Stockwerken und Rolltreppen und Stahl und Glasfassade – und einem «Skywalk» einer Brücke hoch über der Stadt. Wir geniessen das etwas andere kulturelle Highlight bevor wir uns am Abend in die super-touristischen aber auch wirklich hübschen kleinen Viertel Gion und Ponto-Cho begeben. Die Hauptattraktion hier ist die Atmosphäre – enge Gassen am Fluss gelegen, schön beleuchtet mit diesen typischen japanischen Lampen vor jedem Haus. Und jedes Haus, so scheint es, ist hier ein Restaurant. Die Gassen selber sind gefüllt von Touristen aus aller Welt. Das ist neu für uns auf dieser Reise und ein wenig befremdlich, aber erstaunlicherweise nicht unangenehm. Leider ist immer ein grosses Rätselraten, was jetzt in welchem Restaurant zu welchem Standard (und damit Preis) angeboten wird. Meist sieht man weder zu den Fenstern noch zu den Türen in die Räume hinein, vor den Eingängen hängen von oben herab halblange zweigeteilte Stoffbahnen durch die hindurch man erst ins Restaurant – und zu seinen Informationen – kommt.
Und so essen wir an diesem Abend wieder einmal Okonomiyaki – japanische Pfannkuchen. Wir haben schon oft Okonomiyaki gegessen, einmal zum Beispiel spätabends, wunderbar gelegen mitten im Rotlichviertel, in einem winzigen Restaurant am Strassenrand genau dort, wo die Damen mit langen Beine und den hochhackigen Schuhen flanierten. Überhaupt haben wir an so einigen speziellen Orten gegessen, dort, wo es nur selten europäische Touristen hin verschlägt. In Kyoto sind wir mittags an der Uni-Kantine vorbeigekommen und kurzerhand dort essen gegangen. Als gehörten wir dazu – niemand hat uns komisch angeschaut – haben wir unser Tablett gefüllt, unser Hauptgericht am Tresen bestellt und uns zu Studenten und Professorinnen gesetzt. Auf einem der vielen Pilgerwege Japans haben wir an einem winzigen Café am Strassenrand angehalten, uns in die verwuselte Stube gesetzt und einen Kaffee bestellt – und ein ganzes Frühstück mit Brot, Butter, Ei, Salat und Banane erhalten. Und wiederum an einem anderen Tag sind wir kilometerlang über unschöne stark befahrene Strassen gefahren und in irgendeinem Kaff gelandet. Schon seit einer halben Stunde hatten wir Hunger – und sind in einem der besten Nudelrestaurants auf dieser Reise gelandet. Das Restaurant war brechend voll, der Chef-Nudelmacher kam kaum mit dem Teig-rollen hinterher und wir konnten kaum genug bekommen.
Es geht weiter, wir lassen Kyoto hinter uns. Wir sind «im Flow», Reisen ist Alltag. Jeder Tag bringt uns grossartige Erlebnisse, anstrengende Steigungen, laute und verkehrsreiche Strassen, ruhige Gassen, rauschendes Meer, üppige grüne Wälder und gute Unterkünfte am Abend. In Hikone übernachten wir in einem Ryokan direkt unterhalb der Burg. Wir schlafen im Japan Air Line Hotel in Nagoya und in unscheinbaren Business-Hotel in Toyohashi und Kikugawa. Wir radeln vorbei an einer Truppe Pensionierter, die am Strassenrand im Gleichtakt Tai-Chi machen. Wir radeln vorbei an Baustellen, vor denen einsame Baustellenwächter an einsamen Strassenecken darauf achten, dass sich Baustellenverkehr und Strassenverkehr nicht in den Weg kommen. Wir radeln vorbei an hübschen Hauseingängen mit all ihren Blumentöpfen, Büschen, Bäumen und Pflanzen, wir radeln vorbei an Gemischtwarenläden, an Plakatwänden voller Wahlkampfplakaten, wir fahren – fast schon versehentlich – ein Stück über die Alte Nakasendo-Strasse und auch über den Tokaido (Tokai-Weg), zwei wichtige Post- und Handelsstrassen, die beide in der Edo-Zeit (1603-1868 unserer Zeitrechnung) Tokyo mit Kyoto verbanden. Und wir fahren auf diesem Abschnitt der Reise viele, viele Kilometer lang über Radwege, zuletzt und streckenweise wunderschön über die «Pacific Coast Cycling Route». Immer weiter, immer weiter ….