Bulgarien

01. – 08.06.2013, Constanta (RO) bis Veliko Tarnovo (BG)

Mit frisch geölten Rädern sind wir frohen Mutes am Samstag in Richtung Bulgarien aufgebrochen. Es wurde Zeit, dass wir Rumänien hinter uns lassen. Auf unserer Reise ist dies bisher das ärmste Land gewesen. Eine Erfahrung, die wir machen wollten und die wichtig war für das Verständnis von Osteuropa, aber auch eine Erfahrung, die einmal gemacht nicht unbedingt wiederholt werden muss.

 

 

Bulgarien hingegen ist uns ausgesprochen sympathisch. Aber nun schön alles der Reihe nach:
Unser Reiseführer „Donauradweg“ endet, wie der Name schon sagt, am Ende der Donau. Bis Constanta hat er uns geführt, jetzt müssen wir selber schauen. Die Autokarte ist recht ausführlich und bezeichnet die verschieden gefärbten Strassen mit „3rd and 4th grade road“ (gelb), „2nd grade road“ (orange), „1st grade road“ (rot) und Expressway. Autobahnen gibt es nur wenige, und die sind ja sowieso für uns uninteressant.

Wir reisen über Negru Voda (Rumänien) nach Yovkovo (Bulgarien) über einen absolut gottverlassenen Checkpoint. Die breite „rote“ Strasse auf rumänischer Seite ist je näher der Grenze desto weniger befahren und wird „orange“ sobald wir die kyrillischen Buchstaben lesen. Aber nicht nur die Schrift ändert sich, nein, wir haben den Eindruck, dass sich hinter der Grenze auch die Landschaft schlagartig ändert. Alles wird dunkler, dichter, bodenständiger.

Unser Ziel für die Nacht ist „General Toshevo“ – ein schräger Name für eine Ortschaft, die eigentlich recht nett ist. Wir haben im Internet ein Hotel gefunden, das bei unserer Ankunft jedoch geschlossen ist. Aber kein Problem: vor Ort gibt es noch weitere Hotels und wir schlafen in dem frisch erbauten (6Monate alt) und sehr schönen Hotel Uzunov Palace. Die Chefin setzt sich am Abend zu uns und freut sich, ihre Deutschkenntnisse wieder aufzufrischen; sie hat lange in Schwäbisch Hall gelebt und in einer Spinnerei gearbeitet, ist jetzt Kleinunternehmerin am A…. der Welt mit Hotel, Restaurant und Lebensmittelladen. Von ihr erfahren wir, dass ca. 50% der Einwohner dieses Örtchens (so wie auch im Rest Bulgariens) arbeitslos sind. Die anderen 50% verdienen genauso viel wie Arbeitnehmer/innen in Serbien oder Rumänien: ca. 200 Euro pro Monat. Uns ist weiterhin schleierhaft, wie das funktionieren soll, aber wir glauben nicht mehr daran, dass diese Frage zu unserer Zufriedenheit beantwortet werden kann.

„2nd grade road“ klingt gut, und wir fahren also weiter um Dobrich herum in Richtung Südwesten. Heute Nacht wollen wir zelten, da die nächste Stadt 100km entfernt ist. O.k. 100km sind machbar, aber mit den Hügeln Bulgariens wollen wir sparsam umgehen, unsere Beine ein wenig schonen und die Landschaft, die sich jeden Augenblick ändert, geniessen. Durch Ortschaften mit dem Namen Stefan Karadzha fahren wir 2x an diesem Tag. Im ersten dieser beiden Orte findet ein Volksfest statt. Unter den Bäumen vor einem Gemeindehaus „springen“ verkleidete junge Leute synchron im Kreis. Später spielen Kinder in Trachten eine vermutlich traditionelle Geschichte vor (wir verstehen natürlich kein Wort) und dazu singt ein Chor aus alten und sehr alten Frauen mit bunten Kopftüchern. Leider ist es dunkel unter den Bäumen, und die Sonne hat sich verzogen, so dass wir kaum Fotos machen können.

Kurz nach dem traditionellen Intermezzo werden wir Zeugen des ältesten Gewerbes dieser Welt. Die Umfahrungsstrasse von Dobrich ist von äusserst schlechter Qualität, führt mitten durch Waldgebiete und ist nur wenig befahren. Auf der Westseite hingegen ist reges Leben. Wir finden ein Paar rote „Schlangenleder“-Pömps im Strassengraben, eine junge, stark geschminkte und wenig bekleidete Frau kommt uns aus einem Waldweg entgegen und ca. 100m vor uns bremst ein Auto vor einer Parkbucht ab, lässt eine weitere junge Frau einsteigen. Anschliessend verschwinden Auto, Fahrer und Beifahrerin in Windeseile auf der anderen Strassenseite in einem Waldstück. Pilze sammeln?

Bald schon kommt auf dieser orangen Strasse das zweite Mal Stefan Karadzha in unser Blickfeld, wir fahren hindurch und sind erstaunt, wie schlecht eine second grade road ist. Wie müssen denn dann erst die gelben Strassen aussehen? Im Verlauf der nächsten Tage merken wir dann, dass Rückschlüsse von der Farbe auf der Karte zur Breite und Güte des Strassenbelags unmöglich sind.
Im Übrigen: Stefan Karadzha war im 19. Jahrhundert ein Rebellenführer gegen das ottomanische Reich. Nach ihm sind noch mehr, als nur diese beiden Orte benannt.

Sonntag ist eigentlich Ruhetag, aber heute haben wir uns abgemüht! Erst stand wild-zelten auf dem Programm, dann braute sich ein Gewitter zusammen und je später der Tag wurde, desto eher wollten wir Novi Pazar mit seinen Hotels erreichen. Aber je näher wir an Novi Pazar kamen, desto mehr Steigungen hatten wir zu überwinden. Hoch oben in den Hügeln, keine schützenden Wälder mehr um uns, nahe der Ortschaft Sechishte und noch 20km bis zur nächsten Stadt dauerte es ca. 10 Sekunden und wir waren bis auf die Knochen nass. Unsere Stimmung sank auf den Nullpunkt als wir völlig unerwartet das wirklich tolle Hotel direkt vor uns entdeckten – mit schönen Balkons, grossem Garten und Swimmingpool – und der schwerhörige, humpelnde Hauswart uns mitteilte, dass „Ahmet“ der Besitzer nicht hier und das Hotel geschlossen sei. War das Ganze eine Fata Morgana? Im Nachhinein scheint es uns so! Nach 103km (unsere Bestleistung bisher) und sicher insgesamt 1000 Höhenmetern auf buckeligen Strassen erreichten wir … Penny Market 😉 … und das Hotel Evropa in Novi Pazar.
Das grosse Zimmer, die funktionierende warme Dusche sowie das fürstliche Abendessen bestehend aus Brot, Joghurt, Käse, Leberwurst und Prinzenrolle (heruntergespült mit einem Staropramen) hat unsere Laune wieder hergestellt und wir sind müde in das grosse weiche Bett gefallen.
Unsere Entscheidung stand fest: Die Etappen werden nun so geplant, dass wir innerhalb von ca. 50km mit grosser Sicherheit ein Hotel haben. Lieber weniger fahren und mehr geniessen als mehr fahren und völlig fertig sein. Zumal Bulgarien wirklich landschaftlich wunderbar ist und nicht einfach nur „durchradelt“ werden sollte.
Auf der Strecke nach Veliko Tarnova haben wir in Shumen, Targovishte, Popovo und Gorna Oryahovitza übernachtet. Keines dieser Örtchen ist wirklich ein touristisches Highlight. Dennoch haben wir uns überall wohl gefühlt. Shumen hat eine lange Fussgängerzone mit vielen Geschäften und noch mehr Cafés und Kneipen. Ausserdem eine alte Moschee, die zwar langsam in sich zusammenfällt und dennoch einen Besuch wert ist. Targovishte macht die grauenvolle Ortseinfahrt zwischen Plattenbausiedlungen wieder wett durch einen grossen Park und Platz mit Springbrunnen in der Ortsmitte und ebenfalls viele Cafés und Kneipen. In Popovo ist der Hund begraben, aber nach einigem Suchen haben wir doch in einem dieser typischen grossen Parks in der Stadtmitte ein gutes Restaurant mit schmackhaften bulgarischen Gerichten gefunden. Dort sind wir auf Gloria Nasr und ihre Begleiter gestossen. Libanesin von Haus aus und mit 25 Jahren nach Paris gezogen um ihren Facharzt zu machen ist sie nebenbei noch eine fanatische Läuferin. Im letzten Jahr ist sie Paris – London gelaufen, dieses Jahr joggt sie in 4 Monaten von Paris nach Beirut, für den Frieden. Täglich 50km, eine Person begleitet sie im Campingbus, eine Person fährt mit dem Fahrrad neben ihr her – crazy. Gloria ist ausgesprochen extrovertiert, schnell (nicht nur beim Laufen) und während des langen gemeinsamen Abends im Restaurant schreibt sie mitten in der Unterhaltung noch sms, emails und „postet“ ein Foto von uns und sich selber auf facebook – oder auf ihrer blog-Seite www.parisbeyrouth-en-courant.com – und redet in einem fort.

Wir brechen am nächsten Tag auf bis kurz vor Veliko Tarnovo.

Gorna Oryahovitza liegt knappe 10 km vor der ehemaligen Hauptstadt Bulgariens, vor der letzten steilen Steigung. Während wir uns im Hotel häuslich niederlassen, wird auf dem Hauptplatz eine Konzertbühne aufgebaut; wir haben Logenplätze, das lässt uns furchtbares ahnen. Stattdessen erleben wir ein gemütliches kleines Dorffest mit einer charismatischen Sängerin, Menschen die mitsingen und mittanzen und Essensstände rund um den überdimensionierten Platz. Um kurz vor 22:00Uhr nimmt die Sängerin 2 Blumensträusse entgegen und geht unter Applaus von der Bühne; die letzte Eiscreme oder Donuts werden noch schnell gekauft, dann kehrt Ruhe ein.

Wir haben das Konzert an einem Holztisch verfolgt, eine Portion Pommes frites und eine Portion panierte und frittierte Fischchen (finger food) vor uns. Das mussten wir auch einmal essen, haben es schon oft gesehen, und schmeckt hervorragend – auch wenn es ein wenig Überwindung kostet, die regenwurmgrossen Tiere mitsamt Kopf und Schwanz zu zerbeissen.

Am 08.06. – heute – schmerzen unsere Oberschenkel. Nein, wir sind gestern nicht viel gefahren. Aber auf unserer ganzen Reise bisher noch keine solche Steigung. 4km steilstens bergauf, immer kurz vor dem Absteigen und Schieben, was aber bei dem Verkehr und der engen Strasse gar nicht lustig ist. In Arbanasi angekommen sind wir freudig überrascht, dass die kommenden 4km nach Veliko Tarnovo wieder bergab gehen. Arbanasi ist ein schönes Touristenörtchen, die Strassen und Häuser gut zurecht gemacht, viele Hotels, Kirchen, Klöster und Museen. Wir haben uns ein ottomanisches Museumshaus angeschaut; die 6 Leva pro Person (=3Euro) für den Kircheneintritt haben wir uns gespart – dieser Preis ist einfach unverhältnismässig! Jedoch sind 6 Leva wiederum gerechtfertigt für die mittelalterliche Burgruine Tsarevets in Veliko Tarnovo, die wir in der Abendsonne erkundet haben.

Veliko Tarnovo ist mindestens genauso schön und reizvoll, wie es im Reiseführer beschrieben wird. Die kleinen Häuser mit den rotbraunen Ziegeldächern schmiegen sich in die Berghänge entlang des mehrfach gewundenen Flüsschens, die Orientierung ist schwierig, da es immer wieder bergauf/bergab geht und die Strassen wie der Fluss durch die Landschaft mäandern, Hügel und Täler sich unübersichtlich abwechseln. In der Stadt herrscht Leben – die Studenten der verschiedenen Universitäten haben Wochenende und schwärmen aus in die Kneipen, Cafés und Restaurants. Wir planen spontan einen Ruhetag. In diesem wunderbaren Hotel an der Hauptstrasse mit ruhigem, sonnigem Innenhof und Blick über die ganze Stadt lassen wir es uns gut gehen.

Bulgarien ist uns ausgesprochen sympathisch, erinnert häufig ans Tessin oder Italien. Land und Leute sind freundlich und unaufdringlich. Grundsätzlich sind die Strassen in gutem Zustand, abgesehen von einigen Nebenstrassen, die Häuser sind zwar teils recht alt, man erkennt den Geldmangel, aber was möglich ist wird repariert und instand gesetzt. Wir fahren durch kleine Weinanbaugebiete mit Kellereien, mehr sollen angeblich noch folgen. Einige Felder sind von einem leicht lila Schleier überzogen, es sind Lavendelfelder kurz vor der Blüte. Hügel und weite Ackerflächen wechseln sich ab, an allen „gelben“ und „orangen“ Strassen stehen Obstbäume oder Walnussbäume – für die Allgemeinheit, wie es scheint. Wir jedenfalls haben uns schon an Kirschen, weissen Maulbeeren, schwarzen Maulbeeren und wilden schmackhaften roten Pflaumen gütlich getan.

In jedem der vielen kleinen und grösseren Orte, die wir durchquert haben, sehen wir Zeugen einer anderen Zeit. Immer dann, wenn wir einen mehr oder weniger grossen aber grundsätzlich überdimensionierten quadratischen Platz mit einer Statue in der Mitte erblicken, am einen Platzende einen Plattenbau „bester“ Qualität in dem Post und Gemeindeverwaltung untergebracht sind, wenn wir eine mehr oder weniger instand gehaltene Parkanlage entdecken, dann wissen wir, dass wir die Ortsmitte erreicht haben. Haben wir Glück, dann können wir an diesem Platz in einer kleinen Kneipe einen Kaffee trinken; meist gibt es ausser diesem Platz – und den Wohnhäusern drum herum – nicht viel mehr. Wüssten wir es nicht besser, so könnten wir denken, die Bulgaren hätten das Tetra Pak oder den rechten Winkel erfunden. So viele „quadratisch – praktische“ Bauten wie in diesem Land haben wir noch nirgendwo gesehen.
Die Menschen hier sind zurückhaltend – freundlich und eher vom grobschlächtigen Typus. Wir sehen viele bullige Männer und Frauen, viel Übergewicht. Wenn man sich die Essensportionen in den Restaurants anschaut, ist das auch nicht weiter verwunderlich. Wir bestellen meist nur je einen Salat und gemeinsam ein Hauptgericht. Die Bulgaren bestellen Vorspeise, Hauptgericht, Nachspeise und jede Menge Bier. Die Speisekarten selber – genauso wie die Strassenschilder – könnten für uns zum Buch mit 7 Siegeln werden, denn vor allem in den kleineren Orten finden sich keine lateinischen Buchstaben mehr. Zum Glück habe ich das kyrillische Alphabet und ein wenig Russisch gelernt. Das ist eine grosse Hilfe: wenn ich пилешко lese, weiss ich, dass es Roman schmecken wird. Wenn ich черен дроб lese, weiss ich, es schmeckt ihm nicht.

Naja, und die vielen Salate sind zum Glück oft abgebildet, so dass die Auswahl einfach ist. Dennoch wird auch Roman das kyrillische Alphabet lernen, denn uns ist bewusst geworden, dass wir auf unserer langen Reise noch einige Monate damit konfrontiert werden.

In den nächsten Tagen wird das Fahrrad nur wenig benutzt. Zunächst geniessen wir weiterhin Veliko Tarnovo, dann geht es per Zug nach Sophia, wo wir einige Tage verbringen werden. Von dort geht es Mitte Juni weiter über Plovdiv und das „Tal der Rosen“ in die Türkei.

09.-15.06.2013, Veliko Tarnovo, Sofia, Ihtiman, Pazardzhik, Plovdiv

Wie angekündigt haben unsere Räder und wir eine „Ruhewoche“ hinter sich. Veliko Tarnovo hat uns sehr gut gefallen, wir hatten ein tolles Hotel mit kleinem, feinem Gartensitzplatz, in dem es sich auch bei dem Gewitter und Regen gut aushalten liess (im Zimmer). Die trockenen Stunden haben wir genutzt, um in der Altstadt am Berg, mit ihren unterschiedlich grossen und sehr unebenen Pflastersteinen, zu spazieren. Oder um hinunter zum Fluss zu gehen und dort die kommunistischen Gebäude zu bewundern. Oder aber, am letzten Tag, um zum Kloster „Preobrazhenski“ zu fahren. Ein schönes, kleines, altes Kloster, in dem kaum mehr als 2 Mönche wohnen. Das Schwesterkloster für Frauen ist am gegenüberliegenden Berghang, leider zu weit, um zu Fuss dorthin zu gehen. Am 10.06. ging’s weiter – aber die Räder konnten weiter ruhen. Erst im Kofferraum des Taxis, später im Zug nach Sofia. An der Rezeption im Hotel hatten wir gebeten, das Taxi-Unternehmen anzurufen und um ein grosses Taxi zu bitten. Ich habe mitbekommen, wie der Rezeptionist deutlich erklärt hat, dass wir 2 Fahrräder, insgesamt 10 Packtaschen und 2 Personen sind. Am Treffpunkt stand ein … Skoda, 4-türer, ein „ganz normales“ Taxi. Ich wollte es nicht glauben, aber es passte alles hinein, inklusive des schwer übergewichtigen Fahrers, und unser Hab und Gut ist wohlbehalten am Bahnhof in Gorna Oryahovitza angekommen. Die Zugfahrt nach Sofia war bequem aber heiss, wir sind durch wunderschöne Gebiete des Balkan-Gebirges gefahren (deshalb die Zugfahrt 😉 ) Angekommen in Sofia dachten wir zunächst, wir seien falsch ausgestiegen. Immerhin ist Sofia die Hauptstadt Bulgariens. Der Bahnhof ist in äusserst schlechtem Zustand, dreckig, dunkel, unschön. Bis um 14:00Uhr an diesem Tag – also während der 4-stündigen Zugfahrt – hat die Sonne ihr Bestes gegeben. Jetzt ballten sich die Wolken zusammen und wenige Stunden später sollte es gewittern, hageln.
Wir hatten noch kein Hotel, das erste Hostel existierte nicht mehr, das zweite war voll, wir spürten die ersten Regentropfen. Zum Glück wurden wir rasch weiterverwiesen und konnten in der zweitschlechtesten Unterkunft auf unserer bisherigen Reise für relativ viel Geld die kommenden zwei Nächte verbringen. Als sich draussen der Himmel öffnete, standen Roman und ich uns in unserem winzig kleinen Etagenbett-Zimmer ständig auf den Füssen. Kein Tisch, kein Stuhl, unten auf dem Bett konnten wir nicht sitzen da das obere Bett zu tief war, oben sitzen ging auch nicht. Also haben wir die Regenpause genutzt, um die Stadt unsicher zu machen. Schon jetzt konnten wir feststellen, dass Sofia mehr zu bieten hat als uns vorher bewusst war.

Geschlafen haben wir in unserem Etagenbett gut, am nächsten Morgen den offenen Markt erkundet und uns um punkt 11:00Uhr vor dem Nationaltheater eingefunden für eine SofiaGreenTour. Eine wirklich gute Sache, von Freiwilligen geführt. Touristen können sich täglich (!) 2x an diesem Theater treffen und mit den Rädern eine Stadtrundfahrt machen – oder eine Wanderung im „Hausberg“ Mount Vitosha. Zu fünft sind wir durch die Stadt und Parks gekurvt, haben wichtige Bauwerke gesehen und ein wenig dazu erzählt bekommen (nicht zu viel!). Nachmittags erneut Regen, und dennoch haben wir viel gesehen: die Moschee (wurde gerade umgebaut), den gedeckten Markt (nicht so schön wie in Budapest), die Synagoge (leider geschlossen), die heissen Quellen (wer hat das gewusst?), die Hagia Sofia (jawohl!), die Alexander-Nevski-Kathedrale (gross mit goldenen Türmen) und noch vieles mehr. Sofia hat dem Touristen viel zu bieten, macht aber auch den Eindruck einer Stadt, in der es sich wohnen lässt.

Leider ist, seit wir in Bulgarien eingereist sind, der Himmel oft bewölkt und in den letzten Tagen regnet es viel. So haben wir uns auch am letzten Abend vor dem Regen in ein Lokal verzogen; wie wir festgestellt haben ist dies eine Bitburger Bierstube. Frisches Bit vom Fass, frisches Köstritzer vom Fass, Erdinger Weissbier und viele andere deutsche Biere. Die Einrichtung hat uns nach Bayern versetzt (insofern keine echte „Bit-Kneipe“), es gab überbackenen Leberkäse, Sauerkraut und Rippchen, Mettwurst mit Senf und vieles mehr. Das schöne ist aber, dass nichts übertrieben wirkt. Die Kneipe könnte tatsächlich irgendwo in (Süd-)Deutschland sein. Prost!

Am nächsten Tag sind wir früh aufgestanden, wollten rechtzeitig los durch die Hügel/Berge in Richtung Plovdiv. Aber da haben wir die Rechnung ohne … die Diebe gemacht. Unsere Räder standen gut abgeschlossen im Hinterhof, die Helme baumelten gestern noch an den Lenkstangen. Heute nicht mehr. Alles andere war zum Glück noch vorhanden, nichts kaputt. Aber ohne unseren Kopfschutz stürzen wir uns nicht in den bulgarischen Verkehr. Knapp 2 Stunden später hatten wir neue Helme, gar nicht so schlecht, denn die alten waren schon ziemlich verschwitzt 😉
Und los ging die Odyssee heraus aus Sofia. Puh, 14km entlang stark befahrener Strassen, durch schreckliche Industriegebiete, vorbei an Plattenbauten die alles bisher gesehen überbieten. Beim Bau der neuen Strasse hat man nicht an die Fahrzeuge gedacht, die keine Autobahn benutzen können. Wir mussten einen (schönen) Umweg durch die Hügel machen, mussten schlussendlich aber immer noch 1km Autobahn mit dem Rad fahren (sonst wären es erneut 20km Umweg für diesen 1km gewesen). Aber niemand schaut komisch, kein Auto hupt – im Gegenteil: der junge Mann von der Touri-Info in Sofia hat uns von einem Freund erzählt, der den ganzen Weg nach Plovdiv (140km) mit dem Rad auf der Autobahn zurückgelegt hat. Für uns: NEIN DANKE! Wir haben uns für die alte Route entschieden, die „rote“ Strasse Nr. 8. Hmm, wir haben ja schon früher festgestellt, dass die Farben der Strassen auf der Landkarte keinen sicheren Hinweis auf deren Qualität bieten. Aber zunächst fahren wir gut, ca. 5km bergauf, ein paar Kilometer bergab. Die Strasse ist breit und anfangs recht befahren. Im Verlauf immer weniger Verkehr bis in Vakarel kein Auto mehr in unserer Richtung fährt – und uns keines mehr entgegen kommt. Exakt mit dem Ortsausgangsschild hört der gute Belag abrupt auf und wie ein schlechter Witz liegt eine Schlagloch-Pfützen-Landschaft vor uns. Haben wir den falschen Weg eingeschlagen? Roman fragt nach, aber wir sind richtig. Bis kurz vor Ihtimann sind wir fast alleine auf dieser Holperpiste, die jedoch lange Strecken hat, auf den das Radfahren in ländlicher Ruhe wirklich Freude macht. In Ihtimann lassen wir uns das erste Mal in Bulgarien so richtig über’s Ohr hauen, zahlen viel zu viel für das Hotel „from communist times“ und erhalten im dazugehörigen Restaurant etwas anderes zu essen, als wir bestellt haben. Könnten wir uns nur in Bulgarisch verständlich machen!

Die Radstrecke am nächsten Tag ist eine Wohltat. Insgesamt sind wir 66km unterwegs bis nach Pazardzhik, von denen 55km durch kleine Ortschaften bergab führen. In einer dieser Ortschaften – Belovo – sind wir plötzlich von kleinen Läden am Strassenrand umgeben, in denen fast nichts anderes als Klopapier verkauft wird. Stapelweise. Rosa, hellgelb, hellblau, weiss, …. Haben die Menschen alle Durchfall? Nein, wie es scheint befindet sich hier eine grosse Papierfabrik.

Die Landschaft fasziniert uns immer wieder. Bulgarien ist ein wunderschönes Land, definitiv eine Reise wert. Und es gibt Städte, die in keinem der beiden Reiseführer erwähnt sind und uns dennoch sehr positiv überraschen – wie z.B. Pazardzhik. Gross und modern, gleichzeitig gemütlich mit vielen Cafés und Restaurants sowie wunderschönen 2-stöckigen alten Häusern in der Innenstadt. Von hier ist es nicht mehr weit bis Plovdiv.

Eine gute Entscheidung, zwei Tage in Plovdiv zu verbringen. Wir haben ein Hostel in der Altstadt, direkt neben der Moschee. Wenige Schritte von hier finden die Ausgrabungen zur römischen Rennbahn aus dem 2. Jh statt, der schon instandgesetzte Teil ist kostenfrei zu besichtigen – ebenso wie viele andere Ausgrabungen. Plovdiv ist eine der ältesten Städte auf dieser Welt, die Traker haben vor ca. 7000 Jahren ihre Festung auf einen dieser Hügel, nahe des Flusses Maritza, gebaut; die Plastersteine der Strassen in der Altstadt sind – wer weiss 😉 – vielleicht schon mit den Sandalen Julius Cäsars in Berührung gekommen. Wir haben die Stadt von Norden bis Süden und von Westen bis Osten durchstreift und entschieden, sie sollte doch in die Liste der Kulturhauptstädte eingehen. Und, was lesen wir am nächsten Tag: Plovdiv ist vorgeschlagen als Kulturhauptstadt 2019!

Falls dies eintrifft – und wir wünschen es der Stadt und den Bulgaren – dann sollte jeder, das Land bereisen will, möglichst vorher noch hierher.
Wer die Natur liebt, und gutes Essen, wer gerne Berge besteigt oder wandert, wer eine Unmenge an orthodoxen Klöstern besichtigen möchte oder funktionierende türkische Moscheen, wer sich für römische „Steinhaufen“ interessiert oder gerne durch eine vielseitige Landschaft mit dem Rad kurvt, wer im Meer schwimmen oder an der Sonne braten möchte oder lieber in einem Thermalwasser – Spa seine müden Muskeln aufheitern möchte, dem sei Bulgarien wärmstens ans Herz gelegt.

16.-20.06.2013, Plovdiv – Karlovo – (Kalofer) – Kazanlak – Dimitrovgrad – Svilengrad

Nein, der Wind ist nicht unser Freund. Manchmal reicht er uns ein wenig die Hand, dann aber faucht er uns wieder wie üblich ins Gesicht.
Die Strecke Plovdiv – Karlovo ist per se schon nicht so reizvoll. Vierspurige Strasse, Industriegebiet, LKW’s und rasende Autofahrer, kaum grün und wenig Raststätten. Der Wind, der vom Balkangebirge in eindeutig südliche Richtung weht, macht die Fahrt nicht angenehmer, denn wir fahren nach Norden. Nach ca. 24km haben wir uns also für einen Umweg durch die Hügelkette Sredna Gora entschieden, auf „gelben“ Strassen, in Richtung Hisar oder Hisarya. Hier soll es viele antike Artefakte und auch heisse Quellen geben – uns war aufgrund der Steigung, des Gegenwindes und des Sonneneinstrahlung schon so heiss, dass wir nur im Schatten eine Mittagspause machten, bevor wir weiterradelten. Schade eigentlich, aber alles kann man wirklich nicht sehen oder machen, und uns hat es ins Tal der Rosen gezogen.

Obwohl wir wussten, dass die Rosenblütenernte von Mitte Mai bis Mitte Juni geht (wir waren also mindestens einen Tag zu spät) haben wir gehofft, den letzten Rosenblütenpflückerinnen bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen zu dürfen. Bis Karlovo – nach einer sehr anstrengenden Fahrt – haben wir jedoch noch nicht einmal Rosen in einem Vorgarten gesehen. Dafür aber im Innenhof unseres wieder einmal schnuckeligen, schönen Hotels. (Die Hotelpreise und die Hotelqualität in Bulgarien bringen uns immer wieder zum Staunen. Für 2 Personen und 25Euro im Doppelzimmer mit Frühstück haben wir hier Luxus, wie in der Schweiz für 120Sfr! Das nur am Rande.)
Karlovo selber ist ganz nett, hat aber nicht viel zu bieten; ein kleines, altes, gut erhaltenes Dorf am Südhang des Balkangebirges, mit einem grossen kommunistischen Platz – wie es sich für Bulgarien gehört – und ein wenig Leben in den dortigen Cafés.

Wir wollten am nächsten Tag früh weiter; die Hotelrezeptionistin hat mir zugesichert, dass 8:00Uhr eine „sehr gute Zeit“ für’s Frühstück ist – um 8:20Uhr war das Restaurant aber noch geschlossen, wir waren offensichtlich die einzigen Hotelgäste. Irgendwie hat es dann doch geklappt, und unser Frühstück stand um 8:40Uhr auf dem Tisch. Rückblickend war die Verzögerung für unseren Tagesablauf sehr gut! Nachdem wir uns nämlich über 8km und ca. 350 Höhenmeter von Vasil Levski nach Kalofer hochgearbeitet hatten, war eine Getränkepause notwendig. Mit wunderbarem Blick auf den 2376m hohen Botev, den Höchsten Berg des Balkangebirges, kühlten wir uns ein wenig ab – und wurden auf Englisch angesprochen. Sally und Peter, ein bulgarisches Ehepaar aus Kalofer, das seit 21 Jahren in Kalifornien lebt, haben den Kontakt mit uns gesucht und uns freudestrahlend sowie voller Energie ihr Heimatdorf gezeigt. Wir wären niemals auf die Idee gekommen, dass es in diesem 3600 Einwohner zählenden Dorf drei Museen gibt, sowie eine alte, weiterhin genutzte Wasserradmühle und eine wasserkraftgesteuerte Teppichwaschanlage. Wir haben eine schöne Stunde mit Sally und Peter im Geburtsort des Nationaldichters und Revolutionärs (und Berg-Namensgeber) Christo Botev verbracht. Wenn also das Frühstück pünktlich auf dem Tisch gewesen wäre, wäre uns all das entgangen.

Bis Kazanlak, dem Hauptort des Rosentals, waren es nur noch 40km auf ebener Strecke – und der Wind, unser Freund für heute, hielt sich ein wenig zurück. Also eine wirklich schöne Fahrt, entlang der abgeernteten Rosenfelder (die wir nun endlich auch erkannten ….), entlang der Lavendelfelder, entlang der Sonnenblumenfelder, deren gelb als hauchdünner Schleier schon zu ahnen war, entlang aber vor allem des südlichen Balkangebirges, dem wir in ein paar Tagen den Rücken zukehren werden.

Kazanlak muss man nicht unbedingt gesehen haben. Die Lage zum Gebirge und seine Rolle als „bulgarische Hauptstadt des Rosenöls“ sowie die Nähe der vielen Thrakischen Gräber machen es aber dennoch zu einem interessanten Reiseziel. Wir sind 2 Nächte geblieben, wieder einmal in einem schönen und preiswerten Hotel, und haben uns ein Taxi gemietet um die Grabstätte von Seuthes III und anderen Thrakern anzuschauen. Das Bildnis des rothaarigen Mädchens, das alle Informationsbroschüren über die Nekropole aus dem 4. Jh. BC ziert, haben wir auch gefunden. Eigentlich erinnert dieses Gebiet ein wenig an das Tal der Könige in Luxor. Die Gemälde und Grabbeilagen sind weniger luxuriös, die Menge der bisher entdeckten Gräber reicht nicht an die im Tal der Könige heran, die touristische Vermarktung jedoch auch nicht, und wir sind ganz alleine in diese Grabhügel geklettert.

Weiter in Richtung Gebirge, kurz bevor es richtig bergauf geht, auf dem Weg zum Shipka-Pass liegt die Stadt Shipka, in der sich eine sehr schöne russische Kirche befindet, die – soweit wir das verstanden haben – zum Andenken an die Schlacht am Shipka-Pass 1878 und der Befreiung von den Türken gebaut wurde.
Das Rosenölmuseum in Kazanlak ist klein – und bietet einen kleinen aber feinen Einblick in die relativ junge Tradition. Für einen Liter Rosenöl benötigt man 3 Tonnen Rosenblüten, und das bulgarische Rosenöl ist wertvoll – ca. 5000Euro pro Liter!

Nun ist es Zeit, dem Balkangebirge und auch Bulgarien „den Rücken zuzudrehen“. Gen Süden radeln wir, der Türkei entgegen. Die Strecke nach Dimitrovgrad haben wir mit 80km auf der Karte berechnet – als wir bei mindestens 32°C endlich ankamen, stand jedoch 98km auf dem Tacho. Der Umweg durch die Dörfer hat uns mehr Zeit, Kilometer und Kräfte gekostet, als angenommen, war aber auch teils ruhig und schön. Dimitrovgrad, als Planstadt in den 40-er Jahren von 50‘000 Jugendbrigadieren aufgebaut, war überraschend angenehm. Mit einer langen und weiten Platanenallee im Zentrum der Stadt, mit vielen Parks und Springbrunnen, vielen Menschen auf den Strassen und in den Cafés, herrschte deutlich mehr Leben als erwartet – und unser Hotel mit Blick auf den „Kaufland“-Parkplatz war wieder einmal …. Nein, jetzt sage ich es nicht mehr!

Heute sind wir nach 75km in Svilengrad angekommen, morgen werden wir mit „hosgeldiniz“ in Edirne begrüsst werden.