Teil 1: 10.08.2024 bis 18.08.2024
Berlin – Unteres Odertal – Ostseeküstenradweg – Danzig
Der Liegewagen 310 bleibt heute wegen eines Defektes in Zürich stehen, die Reisenden werden auf die Wagen 313 und 314 verteilt – das sind normale Abteile ohne Betten. Kaum sind wir in Richtung Deutschland unterwegs, geht der Bahnwahnsinn schon los. ABER er betrifft uns nicht. Puh, Glück gehabt! Uns so können wir, nachdem die Räder sicher an ihren Haken hängen, unsere Betten im Viererabteil, oben, belagern – wohl wissend, dass wir zwar ganz gut schlafen werden, aber am Morgen zum Frühstück keinen Kaffee bekommen, da es kein heisses Wasser gibt. Wäre es nicht der Nightjet aus Österreich, so würde ich jetzt lautstark singen: «Thank you for travelling with Deutsche Bahn!» (Wise Guys)
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15 Stunden später sitzen wir in einem hübschen Café am Wasser, mit Blick auf den Hauptbahnhof Berlin und gönnen uns einen grossen Cappuccino. Den haben wir uns aber auch wirklich verdient nach dem ersten Schreck beim Aussteigen: alle Luft war raus, aus Romans Vorderrad. Steht jetzt, vor dem eigentlichen Start, schon die erste grosse Reparatur an? Erst mal pumpen, dann Ventil gut zuschrauben und …. ja…. und…. alles gut! Mit einem kleinen Rest Cappuccino-Schaum an den Lippen nehmen wir die ersten der über 600 Kilometer bis nach Danzig unter die Räder.
Schnell sind wir wieder im Reisemodus, mit der Kamera griffbereit in der Fronttasche, den Rückspiegel im Blick und immer weiter, immer weiter. Die Sonne steht schon sehr tief als wir Hohenwutzen erreichen und die Oder überquerend in Polen einfahren, in einem selten schrägen Ort landen. Kaum 30m hinter der Grenze, in einem kleinen Plattenbau-Einkaufszentrum finden wir nach langem Suchen unsere erste Unterkunft auf der Rückseite des Gebäudes. Im angrenzenden «Polenmarkt Hohenwutzen» – das ist offensichtlich der Name des Ortes – gibt es alles: Autoreifen neben 2-Liter-Cola-Flaschen, Souvenirs und Chips, eine Tankstelle für Autos und mehrere «Tankstellen» für alkoholische Getränke. Ein grosses altes verlassenes Fabrikgebäude wirft seinen Schatten über dieses unwirkliche Markttreiben und über den Plastiktisch, auf dem unsere Teller mit Pommes frites und einer grossen Wurst vom Grill stehen. Wir sind unterwegs!
Entlang der Oder auf deutscher Seite geht es nun gen Norden durch die Uckermark, eine wunderbar naturnahe aber auch sehr verschlafene Region zu der der Naturpark unteres Odertal gehört. Wir geniessen den sehr gut ausgeschilderten Radweg durch die Auenlandschaft, vermissen aber eine gemütliche Infrastruktur mit z.B. Cafés oder Restaurants in den kleinen Ortschaften. Auch Lebensmittelläden sind rar, so dass wir am zweiten Abend vom hübschen kleinen Zeltplatz auf deutscher Seite noch einen Abstecher hinüber nach Polen machen, zum Einkaufen. Gryfino liegt ca. 7km entfernt – und ist voller Leben, voller Geschäfte und auch Cafés und Bars. Das macht Lust auf mehr!
Während der kommenden Woche reisen wir nun in Polen durch kleine Orte, und weite Landschaften quer nach Nordosten bis kurz vor Kohlberg. Wir radeln der Ostseeküste entlang über kilometerlange frisch geteerte Radwege, schieben unsere schweren Räder mühselig durch tiefen Sand und holpern stundenlang über Schotterpisten. Wir fahren in Schritttempo durch typische Touristenorte mit Karussells, Eiscreme- und Waffelständen, Hau-den-Lukas und Frittenbuden. Menschenmassen wechseln sich ab mit stillen Küstenabschnitten, Pinienwälder und Mischwälder voller Eichen, Birken und Buchen begleiten uns, der Strand beginnt am Waldrand und die Ostsee plätschert ruhig dahin.
Das polnische Pommern gefällt uns gut, mal führt uns der Weg auch weg von der Küste, die Landschaft wird weit, eine Welt voller Grüntöne liegt unspektakulär und wunderschön vor uns, wir können uns nicht satt sehen! Nun ist der Radweg gesäumt von alten Apfelbäumen, Birnbäumen, Mirabellenbäumen und selten einmal Zwetschgen. Die vielen Kirschbäume sind um diese Jahreszeit schon wieder fruchtlos, das Rot der Vogelbeeren leuchtet durchs Dickicht und zurück in den Mischwäldern ist der Boden bedeckt mit längst abgeernteten Heidelbeersträuchern. Wir sind selten so abwechslungsreich und so lange auf so schönen Wegen gefahren; für Velofahrer ist der Ostsseküstenradweg perfekt!
In dieser ersten Woche zelten wir insgesamt 4x, das Wetter ist schön, die Zeltplätze auch – nur auf dem ersten war die Dusche kaputt. So musste die Oder zum Waschen herhalten: einmal eintauchen und geniessen! An der Ostseeküste – ob nun gezeltet oder Hotel – hat es uns jeden Abend in das Halli-Galli der supertouristischen Küstenorte verschlagen, von denen jeder im Grunde wie der andere aussah: Kebab, Frittenbude, Gofry und Lodi (Waffeln und hohe Softeiscreme-«Türme»), dann noch das eine oder andere Restaurant mit Polnischer Küche. Meist haben wir uns ein solches einfaches polnisches Restaurant ausgesucht, mit tollen Fischgerichten, Pierogi, Kartoffelpuffern mit Gulasch, Kohlwickeln und saurer Mehlsuppe. Und natürlich, am Abend, mit lokalem Bier! Was eine Vielfalt an verschiedenen leckeren Biersorten, so etwas haben wir selten gesehen – und getrunken!
Wenn uns tagsüber irgendwann der Hunger plagte, haben wir – erstaunlich für dieses eher dünn besiedelte Land – fast immer ein kleines einfaches Restaurant mit leckerer lokaler Hausmannskost gefunden. In Polen wird uns bisher nicht langweilig, was das Essen betrifft. Und Pierogi kann man tatsächlich sogar zwei Mal am Tag essen. So langsam haben wir uns auch daran gewöhnt, wie man in den sogenannten Milchbars (Bar mleczny) – in denen es all die oben genannten Gerichte gibt – an sein Essen kommen. Am Tisch warten bringt nichts, denn es gibt keine Bedienung. Jeder einzelne muss an die Theke und ein Gericht auswählen und dann wieder an seinen Platz gehen mit einer Nummer in der Hand. Sobald das Essen fertig ist, wird mit Mikro durch den ganzen Saal – oder auch über Lautsprecher auf den Gartensitzplatz übertragen – die Nummer aufgerufen. Gesetzt den Fall, dass wir die Nummer verstehen, dann gehen wir unser Essen selber holen, auch Besteck und Servietten, und wenn wir fertig sind, bringen wir alles wieder zurück an eine Durchreiche, durch die das Tablett in Empfang genommen wird. Oder aber wir stellen uns an, wie in einer Kantine, bekommen unser Essen in grossen Portionen – und wirklich sehr lecker – auf die Teller gehäuft. Der Rest läuft dann, wie zuvor schon beschrieben. Dies ist für uns im Moment das eindrücklichste Überbleibsel des Sozialismus. Ausser dem ein oder anderen Plattenbau ist der sozialistische Mief auch in Polen mehr oder weniger verschwunden.
Zurück auf dem Zeltplatz, mit vollem Bauch und Bier im Kopf, kriechen wir meist sehr schnell in die Schlafsäcke. Und während es summt und brummt, redet und lacht um uns herum, das Leben noch einmal Anlauf nimmt bevor auch der Letzte tief und fest schläft, währenddessen sinken wir immer tiefer in unsere Matratzen und träumen von Schlaglöchern und Schotterpiste, aber auch von Pinienwäldern und Meeresrauschen. Trotz all dem Trubel wird es nie zu laut.
Und am nächsten Tag packen wir alles wieder ein, klemmen die Taschen ans Fahrrad, stellen den Tacho «auf null» und fahren los und fädeln uns in den Verkehr ein, der keine Bremse kennt. Und irgendwann, nach acht Tagen «durchradeln» kommen wir an in der eindrücklichen und wunderschönen Stadt Danzig.
19./20.08.2024 – Danzig
Wie Spielzeughäuser aneinandergereiht stehen sie da, wunderschön anzusehen wie auf einer Postkarte: die Wohnhäuser in Danzig. Wir haben es uns erhofft und sind nicht enttäuscht worden, Danzig ist hübsch und hat Grandezza; die alte Hansestadt, reich geworden durch den Handel mit der Welt, erkennt man immer noch. Eingestreut in das Stadtbild der verzierten Giebel stehen verschiedene grosse und kleine Backsteinbauten, aus Backstein erbaute Kirchen, die für uns schon länger das Bild in Pommern prägen. Und dazwischen, natürlich, immer wieder Wasser – die Weichsel und ihre Nebenarme bringen Passagiere und Güter von einem Ort zum anderen, von der Welt nach Danzig und von Danzig in die Welt. Hier ist die grosse Werft, in der auch jetzt immer noch – wenn auch in kleinerem Umfang – Schiffe gebaut werden. In den 1980er Jahren waren hier bis zu 18000 Mitarbeitende beschäftigt, eine Stadt in der Stadt mit eigenen Geschäften, Wohnhäusern, Kinos, aber auch mit schlechten Arbeitsbedingungen und geringen Löhnen. Die hier gegründete unabhängige Gewerkschaft «Solidarnosc» – und Lech Walesa – wurden zu einem Symbol für den friedlichen Widerstand gegen autoritäre Regime und trug wesentlich zum Ende des Kalten Krieges bei. Heute stehen viele alte Gebäude in der Werft leer, verfallen langsam oder werden als Zeitzeugen zu kleinen Museen umfunktioniert.
So ganz haben wir das noch nicht verstanden, mal war Danzig deutsch – oder preussisch – mal polnisch und mal eine «Freie Stadt». Aber eines scheint sicher, hier an der Westerplatte begann der zweite Weltkrieg, als die «Schleswig-Holstein» so ganz ohne Kriegserklärung am 01.09.1939 das Feuer auf ein polnisches Munitionslager eröffnete. Das 1966 aufgestellte Denkmal im Brutalismus-Stil ist alles andere als schön – wir erreichen es mit einem kleinen Passagierschiff und einer Horde anderer Touristen. Erstaunlich: die Stadt ist voll von Touristen und dennoch ruhig, gemütlich und sehenswert. Die Restaurants sind – wenn überhaupt – nur ein ganz klein wenig teurer als z.B. am Ostseestrand und überall ist die Bedienung (oder die Person hinter der Theke) freundlich und zuvorkommend. Nur die Sprache ist eine kleine Herausforderung. Einfach ablesen geht nicht, dann versteht dich niemand. Die Aussprache der vielen Sonderbuchstaben ist nicht ganz einfach – und aneinandergereiht klingen alle Buchstaben noch einmal anders als erwarte. Dennoch ist die Verständigung meist sehr gut möglich – wenn beide wollen, beide mit Händen und Füssen reden und die Zeichensprache des jeweils anderen richtig interpretieren, ja dann kann man auch Waffeln mit Apfelkompott und Zimt oder Pizza mit Ananas (ja!) oder Gurkensuppe bestellen. Und manchmal kommt halt doch etwas anderes, das gehört auch dazu! Die eine oder der andere spricht ein paar Brocken deutsch und englisch ist v.a. in der Tourismusbranche recht üblich. Wir kommen zurecht und wir bekommen meist das, wonach wir fragen.
Wie jeder «gute» Tourist klappern wir alles ab, was es abzuklappern gibt, in Danzig. Unter anderem verbringen wir Stunden im grossen, sehr gut präsentierten, sehr lese-intensiven und aufwühlenden World-War II – Museum. Dazu gibt es nicht viel zu sagen – der Name ist Programm, wirklich Neues lernen wir nicht aber es ist wichtig und richtig, dieses Grauen nie zu vergessen, immer wach zu halten, damit es – hoffentlich – nie wieder passiert!
Zwei Tage Danzig ist gut, aber bei Weitem nicht ausreichend. Wir hätten noch viel anschauen können, lernen können oder aber einen Tag in Sopot am Strand verbringen können. Uns zieht es jedoch weiter, in Richtung Süden, entlang des Eurovelo 9 – Radwegs, der hier beginnt.
Teil 2: 21.08. – 30.08.2024
Gniew – Chelmno – Bydgoszcz – Mogilno – Pobiedizka – Poznan – Bojanowo – Wroclaw
Vor dieser Strecke hatten wir ein wenig «Bammel». Die zunächst fast 100km haben wir auf knapp 85km heruntergplant. Wir wussten genau, dass heute, in diesem mehrheitlich flachen und zersiedelten Teil Polens, wie auch schon in den letzten Tagen, kaum Infrastruktur zu erwarten war. Wir wussten, dass wir nur selten einmal nach kilometerlangem radeln auf Sand und Schotterstrassen ein paar Häusern begegnen. Und vor allem wussten wir, dass der Wind heute unser stetiger Gegner sein würde; er würde mit bis zu 40km/h aus Westen wehen, wenn wir nach Westen fahren und ebenso heftig aus Süden uns glatt ins Gesicht und in jeden einzelnen Beinmuskel pusten, wenn uns der Weg in Richtung Süden führt. Die Kombination aus Wind, unbefestigtem Weg und zwischendurch auch Steigung hat uns derartig in Beschlag genommen, dass wir nach genau 14 Tagen unseren 1000sten Kilometer dieser Polenreise einfach verpasst haben.
Erstaunlich eigentlich, dass in diesem Land, wo in ländlichen Gebieten teure Autos vor hübschen, grossen und sichtlich neuen Einfamilienhäusern stehen, die Verbindungsstrassen sehr oft (noch) nicht asphaltiert sind. Und so fahren wir fernab der Ostsee mit ihrem wunderbar feinen Sand jetzt mitten durch Polen über Strassen mit schrecklich feinem Sand. Oder quer durch fast undurchdringliche Waldgebiete über vermeintliche Waldwege, die sich als Dünenlandschaft im Zentrum Grosspolens herausstellen.
Auch Martha und Joe, die wir kurz vor Bydgoszcz getroffen haben, verdrehen die Augen beim Thema Sand. Beide sind über 70, Amerikaner, reisen 2x pro Jahr während jeweils 2 Monaten mit dem Rad (und ohne Motor) durch die verschiedensten Länder, verbinden als Berufsmusiker Musik (Violine und Kontrabass) mit dem Abenteuer, neue Menschen und Kulturen kennen zu lernen. Schade, dass sie in die entgegengesetzte Richtung unterwegs sind; wir hätten sicher einen wunderbaren Abend zusammen verbringen können mit Essen, Wein und vielen interessanten Gesprächen. So aber haben wir ca. 20 Minuten an einer vielbefahrenen Kreuzung stehend unsere Eindrücke über Polen ausgetauscht, uns dann «happy travels» gewünscht und hoffen, dass wir uns – in der Schweiz oder den USA – einmal wiedersehen.
Wir haben den beiden nordwärts Fahrenden dann noch empfohlen, in Gniew an der Weichsel Rast zu machen. Die Weichsel bildete im Mittelalter die westliche (natürliche) Grenze des «Deutschordenstaates», in Gniew ist eine der Burgen dieser Ordensritter nun zu einem sehr grossen und dennoch unspektakulär schönen Hotelkomplex umgebaut worden. Die Übernachtung dort im European Historic Hotel war ein kleines unerwartetes Highlight, das uns an diesem erstaunlich sonnig-warmen Abend die Strapazen des langen Regen-Radeltages vergessen liess.
Bydgoszcz, von dieser Stadt hatten wir noch nie gehört, diese Stadt lag einfach auf unserer Route in Richtung Süden, in Richtung Poznan und Wroclaw. Wir erreichen dieses hübsche Städtchen schon am frühen Nachmittag, übernachten – einmal mehr – in einem wunderbaren Hotel. Hier ist die Zeit stehen geblieben, irgendwo im beginnenden 20. Jahrhundert.
Bydgoszcz ist voller Leben, schon am Nachmittag, als wir durch die Gassen streifen, auf dem grossen zentralen Platz ein Lody (Eiscreme) essen und den Kindern beim Spielen am Springbrunnen zuschauen. Noch viel mehr Leben zeigt sich dann im Verlauf des Abends, als – so scheint es – die ganze Stadt auf dem Weg in die verschiedenen Restaurants ist. Überhaupt scheint uns das Leben hier in den polnischen Kleinstädten nicht unähnlich dem italienischer Kleinstädte: Eiscreme gibt es überall und abends geniessen Jung und Alt, Familien und Alleinstehende das Flair in der Innenstadt. Unter den Sonnenschirmen sind die Tische der Bars besetzt, es wird viel Bier getrunken, und später gibt es dann Pierogi oder Zurek oder Bigos, und zum Abschluss – wie sollte es anders sein – wieder eine Eiscreme. Sogar ich esse hier immer wieder ein Eis, denn die Polen sind sehr erfinderisch: Apfelkuchen-Eis; Mohn-Eis; Marzipan-Eis … viele Sorten haben wir noch nie gesehen und wir sind überrascht, wie ausgesprochen gut sie alle schmecken!
Wir folgen dem Eurovelo 9 nach Poznan und weiter nach Wroclaw. Es ist flach hier, meistens, und es ist nicht viel los – überall Maisfelder und Wind, überall Landwirtschaft oder Wald – und zwischendurch aufgetürmte Heurollen oder Strohballen, teilweise wundersam dekoriert. Zwischen Mitte August und Ende September findet «Dozynki» statt, das Herbstfest. Es wird die Ernte gefeiert und je ländlicher desto kreativere Dekorationen überraschen uns am Strassenrand. Die Fahrradroute ist formal zwar festgelegt, aber über viele hundert Kilometer noch nicht beschildert, nicht befestigt. So freuen wir uns über jeden Tag, der uns nur kurze Strecken über Sand oder Schotter führt. Dann haben wir auch Musse, umherzuschauen. Wir finden weniges das an den vergangenen Sozialismus erinnert, dafür aber viele, viele Neubaugebiete, immer wieder Plakate auf denen Bauland zum Kauf angeboten wird. Wir sehen die vielen grossen und gut erhaltenen Kinderspielplätze und es wundert uns nicht, dass in Polen – zumindest unter der letzten Regierung – die Familie auf eine recht konservative Art gefördert wurde mit einer weiterhin niedrigen Erwerbsquote der Frauen und einem deutliche «Gender-pay-gap».
Vermutlich haben wir das letzte Mal gezeltet, kurz vor Poznan. Wir finden auf dem von uns eingeschlagenen Weg keine vernünftigen Zeltplätze mehr, und es ist auch gut so. Die Hotels sind schön, das Frühstück meist üppig so dass wir die ersten 40-60km schon einmal ohne Esspause unter die Räder nehmen können. Falls wir dann doch Energie-Nachschub brauchen, dann findet sich sicherlich in einer der kleinen Ortschaften irgendein Sklep (Geschäft) oder sogar eine Zabka. Dies ist eine Kette kleinerer Lebensmittelläden, in denen wir alles von Wasser über Gummibären zu heissen Snacks oder Kaffee bekommen. Je ländlicher sich so ein Sklep spollywczy (Lebensmittelgeschäft) befindet, desto vollgestopfter ist er meist; draussen sitzen schon morgens früh die Trinker mit ihren Bierflaschen, drinnen können wir nun auch frisches Brot, Fettgebackenes, lokalen Käse, Wurstwaren, aber auch Gasflaschen, Grillkohle oder Waschmittel kaufen.
Somit hat Camping eben auch seinen Reiz: wir füllen unsere Rucksäcke mit 2 Bierdosen, Brötchen, Käse, Oliven, Tomaten, Gurken und vielleicht auch einmal einem Wodka; nach Zeltaufbau und Duschen wird fürstlich zu Abend gegessen und um 20.30Uhr ist «Lichterlöschen» – die Sonne ist untergegangen und viel gibt es nicht zu sehen oder zu tun auf diesen teilweise verlassen wirkenden Stücken Wiese. Anders als an der Ostsee, wo wir manchmal Mühe hatten, einen Platz zu ergattern, sind wir im Inland fast alleine auf den Plätzen.
Egal welche Stadt wir besuchen hier in Polen, sie gefallen uns alle! Die Häuser sind auch in Bydgoszcz, Poznan und Wroclaw wie Puppenstubenhäuser aneinandergereiht, schlank und bunt, keines wie das andere. Jede Stadt (und jedes über Jahrhunderte gewachsene Dorf) hat einen zentralen Platz mit dem Rathaus in der Mitte. Darum scharen sich Geschäfte, Restaurants und Bars und in weiteren Kreisen um diesen Platz liegen die Wohnhäuser. Wir fühlen uns wohl, wir geniessen den Trubel nach der Ruhe auf dem Land und sind ein wenig traurig, dass wir schon in 2 Tagen dieses schöne und überraschend vielseitige Land verlassen werden.
Teil 3: 31.08. – 06.09.2024
Zlotoryja – Görlitz – (Bautzen) – Bischofswerda – Dresden – Leipzig
Mit 25 Minuten Verspätung ist er nun doch noch losgefahren, unser Zug zurück in die Heimat. Die defekte Türe zum Rollstuhlabteil öffnete sich nicht und die drei Rollstuhlfahrer konnten nur nach viel Mühe einsteigen und einen Platz finden. Und somit geistert wie schon am ersten Tag unserer Reise auch heute in meinem Kopf das Lied der Wise Guys: Thank you for travelling with Deutsche Bahn!
Nach exakt 1540 Reisekilometern sind wir gestern in Leipzig angekommen, haben ein paar entspannten Stunden in der Altstadt verbracht, die wir auf den Tag genau vor 5 Jahren schon einmal bewundert haben. Am Abend haben wir in unserem 30°C heissen Zimmer dann alles so gepackt, dass wir heute im ICE nach Basel die Räder und einen Grossteil des Gepäcks in Abteil 1 abstellen konnten um anschliessend unsere Sitzplätze in Abteil 11 zu beziehen (kein Witz!).
Während dieser letzten Reisewoche hiess es Abschied nehmen von Polen, einem Land, dass uns überrascht hat mit seiner unspektakulären Schönheit, der rauen Ostseeküste, dem flachen und grossenteils auch bewaldeten landwirtschaftlichen Inland und den wunderschön bunten, geschichtsträchtigen und lebhaften Kleinstädten. Ein Land, in dem wir täglich das einheimische Essen genossen haben und in das wir jederzeit gerne wieder zurückkehren möchten. Und wie um unsere Lust auf Polen auf eine (kleine) Probe zu stellen, hatten wir die schrägste aller Unterkünfte in der letzten polnischen Kleinstadt – Zlotoryja (Goldberg). Hier wurde schon im 12. Jahrhundert Gold geschürft und es wunderte uns nicht, dass unser Appartement «Gold 3» heisst. Was uns jedoch wunderte war, dass der ausgehändigte Schlüssel nur an die Kellertüre passte und wir 3 provisorische Stufen nach unten in Richtung Heizkessel gehen mussten. Dort angekommen haben wir eine Gitterstabtüre – also wie eine Gefängnistüre – öffnen müssen und konnten unser geräumiges, schön eingerichtetes Kellerappartement ohne jegliches Fenster (dafür aber mit Blick auf den Heizkessel) beziehen. Draussen schien die Sonne, hier war es dunkel und stickig … ein (warmes) Bier im einzigen offenen Lokal am Marktplatz hat unsere Stimmung wieder etwas gehoben.
Zgorzelec erreichen wir schon am frühen Nachmittag, dies ist der Ostteil des alten Görlitz, der durch die Grenzziehung an der Oder-Neisse-Linie nach dem 2. Weltkrieg an Polen fiel. Mit Görlitz ist es seit 1998 eine gemeinsame Europastadt, und damit hören – aus unserer Sicht – die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Es ist Sonntag, Wahlsonntag in Sachsen und Thüringen um genau zu sein, und sonntags sind in Deutschland die Läden meist geschlossen. Der letzte «Zabka» vor der Grenze versorgt uns noch mit 5 Litern Trinkwasser, in der letzten Eisdiele kurz vor der Grenze essen wir noch ein leckeres polnisches Eis und dann fahren wir aus dem Trubel hinüber über die Neisse nach Görlitz. Ein Katzensprung in eine andere Welt. Es ist ruhig hier, gediegen, geputzt und gepflegt und vielleicht ein wenig leblos. Wir streifen durch die Altstadt, bewundern die restaurierten Bauten, sehen im neueren Teil der Stadt aber auch noch Erinnerungen an eine andere – sozialistische – Zeit. Beim Abendessen im Kartoffelhaus treffen wir Annette und Mike, aus der Nähe von Potsdam, die auch zum ersten Mal hier sind und Görlitz geniessen. Es ist interessant, sich auszutauschen mit zwei Deutschen die aus einem kleinen Dorf stammen, bei der freiwilligen Feuerwehr sind, an jedem Dorffest anzutreffen sind und die am Wahlsonntag nicht die AfD gewählt haben. Die sich gegen Hetze aussprechen und für Vielfalt. Die Wahlergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sind erwartet katastrophal. Doch auf die Gesamtbevölkerung dieser Länder gerechnet haben ca. 70% KEINE radikal rechte Gesinnung, so wie Annette und Mike. Diese Menschen gilt es zu motivieren und bei der Stange zu halten.
Vor dem Schlafengehen blicken wir noch einmal über die Neisse nach Zgorzelec, ein wenig sehnsüchtig hören wir die Musik und das Stimmengewirr aus den Restaurants am anderen Ufer. Polen, wir vermissen dich schon jetzt.
Es ist ein unangenehmer Radeltag, der uns von Görlitz über das hübsche kleine Städtchen Bautzen nach Bischofswerda führt. Viele, viele Kilometer fahren wir entlang der mehrspurigen Hauptstrasse, lange auch ohne eigenen Radweg. Schatten ist Mangelware, das Thermometer steigt auf über 30°C und diese Temperatur herrscht auch in unserem Hotelzimmer vor, im einzigen Hotel am Platz. Wir sind erschöpft – aber mehr Energie hätte uns hier auch nichts genützt, denn es gibt nichts zu tun. Bischofswerda ist klein, es ist Montag und die wenigen Restaurants haben – bis auf Dönerbuden und Asia-Imbiss – geschlossen aber zumindest im Hotel gibt es noch Abendessen. Beim Rundgang in der Abenddämmerung treffen wir auf einen alten Mühlsee, wunderschön; wir sehen eine gut erhaltene Stadt mit vielen leerstehenden Ladenlokalen, wir spüren fast schon ländliche Stille, finden keinerlei Kulturräume aber stattdessen an der Ecke zum Marktplatz eine grosse AfD – Zentrale. Jetzt wissen wir wirklich, wo wir gelandet sind.
Die knapp 40 Kilometer nach Dresden fahren wir locker durch heute schöne Landschaft und über gut geführte ruhige Radweg-Routen. Wir sind entspannt, wir freuen uns auf diese imposante Stadt und wir wissen, dass wir heute die letzten Kilometer unserer Reise auf dem Elberadweg hinter uns bringen werden. Von Dresden nach Leipzig wollen wir den Zug nehmen.
Dresden, was haben wir vorher damit verbunden? 2. Weltkrieg, Zerstörung, Wiederaufbau, DDR. Unser Appartement liegt am Neumarkt, mit unverstelltem Blick direkt auf die Frauenkirche, die 1945 kurz vor Ende des Kriegs ausgebrannt und in sich zusammengefallen ist, während fast 4 Jahrzehnten als Ruine erhalten blieb und erst 1993 wieder aufgebaut wurde. Sie ist ein Mahnmal des Krieges, ein Mahnmal gegen Faschismus.
Dresden überwältigt uns. So etwas haben wir beide noch nicht gesehen, der Grandezza der wieder aufgebauten Altstadt kann man sich nicht entziehen. Wir verbringen einige Stunden fast schon lustwandelnd durch die ruhigen Strassen und Gassen, zwischen historischen Gebäuden, umgeben von Geschichte und Kultur. Eine Wohltat, dass der Autoverkehr umgeleitet wird und nur ab und zu eine Strassenbahn an uns vorbei rauscht. August der Starke hat im ausgehenden 17. Jahrhundert mit seiner regen und strukturierten Bautätigkeit Dresden zu einer prunkvollen barocken Metropole entwickelt; wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mehr Übersicht und Information liefert uns die Stadtrundfahrt. Dies ist etwas, das wir in anderen Städten äusserst selten machen – hier aber sehr geniessen. Wir werden nicht nur durch die Altstadt und angrenzenden Villenviertel geführt, wir erhalten Erklärungen und Hintergründe zu Dresden, seinen Gebäuden, seinen Persönlichkeiten und seiner Geschichte. Wir fahren am südlichen Ufer der Elbe bis zum «Blauen Wunder» (eine Brücke» und hoch oben am nördlichen Ufer vorbei an den Elbschlössern bis in die Neustadt. Dort steigen wir aus. Denn Dresden ist mehr als nur historische Gebäude. Dresden ist Kulturstadt, ist Studentenstadt, ist Lebensfreude! Hier, auf der anderen Elb-Seite, ist alles anders: Enge Strassen aber auch Plattenbauten, versprayte Haustüren und -wände, verwuselte Menschen, auf einmal auch «Multi-Kulti» mit Eritreern, Vietnamesen, anderen Völkern. Wir sehen junge Familien mit Fahrrad oder Skateboard durch die Strassen fahren, wir sehen diejenigen Menschen, die sich vermutlich im historischen Zentrum eher unwohl fühlen. Hier ist das sogenannte «Szeneviertel», Strassenmusik begleitet uns zu einem Radeberger Bier und beim Vietnamesen essen wir köstlich!
In Leipzig, bei Soljanka und Kartoffelsuppe sinnieren wir nach, über unseren Urlaub, über Polen, über Deutschland, über Kriege und Frieden, über Sozialismus und Faschismus. Wir fragen uns, wer wohl in den hochherrschaftlichen Villen Dresdens gewohnt hat, zu Zeiten der DDR. Wir fragen uns, was mit den historischen Gebäuden wie z.B. Semperoper oder Zwinger passiert ist, als die Stasi ihren Einfluss geltend gemacht hat. Es sind teils schwere Gedanken, die wir gerne verdrängen zu Gunsten der wunderbaren Reiseerinnerungen, die uns jetzt, bei der Heimfahrt den Abschied von Polen und Ostdeutschland ein wenig erleichtern.